Frankfurt liest ein Buch: „Nicht ich bin Türkin, sondern meine Mutter

Artikel von Claudia Schülke
 
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Ihr Debütroman „Streulicht“ wurde für das Projekt „Frankfurt liest ein Buch“ ausgewählt: Autorin Deniz Ohde © Marcus Kaufhold

 

 

er nun vor der Bühne und nahm den Applaus des Publikums entgegen. Vierzehn Mal hat Lothar Ruske für den Festivalverein und die zahlreichen einzelnen Veranstalter in Stadt und Umland das Programm von „Frankfurt liest ein Buch“ koordiniert, nun zieht er sich zurück. Hinter dem scheidenden Literaturvermittler saßen sechs Gäste auf dem Podium und warteten auf ihren Einsatz im großen, bis auf den letzten Platz besetzten Vortragssaal der Deutschen Nationalbibliothek: vier Deutsche mit Migrationshintergrund, unter ihnen Frankfurts designierter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD), und zwei ohne. Sie sollten Passagen aus „Streulicht“ (Suhrkamp) lesen, dem für das diesjährige Lesefest ausgewählten Debütroman von Deniz Ohde, die neben ihrer Lektorin in der ersten Reihe der Dinge harrte.

Sie musste sich gedulden, denn vor der traditionellen Auftaktlesung mussten erst die Honoratioren ihre Grußworte vortragen. Gastgeberin Ute Schwens freute sich, dass „jedes Jahr ein neues Licht“ von ihrer Bibliothek aus auf Frankfurt geworfen werde: „Dieses Jahr ein Streulicht.“ Sonja Vandenrath, Literaturbeauftragte der Stadt, dankte vor allem Ruske: „Du warst das Herz des Lesefestes.“ Suhrkamp-Lektorin Martina Wunderer verwies darauf, dass nach „Ginster“ von Siegfried Kracauer und „Scheintod“ von Eva Demski nun schon der dritte Roman ihres Verlages auf dem Programm des Festivals stehe.

Die Erfüllung eines Traums

Endlich trat Josef ans Rednerpult und begann die Lese-Stafette mit einer kurzen Passage, die den Titel des Romans ausleuchtete: „Orangefarbenes Streulicht im Nachthimmel.“ Wer je mit der S-Bahn aus Wiesbaden kam, weiß, wie das aussieht und wo das ist. Dort, wo die 1988 in Frankfurt geborene Ohde aufgewachsen ist. In Sindlingen an der Frankfurter Peripherie ist der Industriepark Höchst nicht nur zu sehen, sondern auch zu riechen und als säuregesättigte Luft zu schmecken. Stress in der Atmosphäre, Stress beim Üben für einen potentiellen Chemieunfall in der Schule, wo das erzählende Ich gemobbt wird, weil es „eines von diesen Kellerkindern“ ist. Da hatte Josef schon an Tanja Brühl übergeben, Präsidentin der Technischen Universität Darmstadt.

„Nicht ich bin Türkin, sondern meine Mutter“, heißt es in der Passage, die die Journalistin Isabella Caldart vortrug. Geradezu groteske Züge nahm der Roman an, als Steffen Schwarz die Lesung fortsetzte, Lehrer an der Max-Beckmann-Schule, wo Ohde ihr Abitur gemacht hat. Hier erklärt das Ich, das „von hier“ ist, einem Durchreisenden am S-Bahnhof, wie der Fahrkartenautomat mit seinen Tarifzonen funktioniert. „Majestätisch, erhaben“ nennt der Fremde den Industriepark, und: „Sie sehen das wohl nicht so.“

Ohdes Roman erzählt von den Bildungschancen migrantischer Arbeiterkinder an der Peripherie der Großstadt. Deshalb kam mit Sarya Akdeniz auch eine Schülerin der Heinrich-von-Kleist-Schule aus Eschborn zu Wort. Sensible Einfühlung in die Konflikte zwischen den Eltern des erzählenden Ichs verriet die Passage der schwarzen Aktivistin und Tony-Sender-Preisträgerin Eleonore Wiedenroth-Coulibaly. Zuletzt ergriff Ohde das Wort. Ihr Wunschtraum habe sich erfüllt: „Ich bin ausgezogen, um Schriftstellerin zu werden.“

Schon 2011, als das Festival mit Wilhelm Genazinos „Abschaffel“ beworben wurde, habe sie gedacht: „Vielleicht eines Tages?“ Doch Genazino habe geschrieben, wer die Frankfurter Vororte beschreiben wolle, komme um Beleidigungen nicht herum. „Ich habe versucht, die eigentümliche Schönheit des Frankfurter Westens einzufangen, die Ästhetik eines Industrieparks“, sagte Ohde. Das ist ihr bravourös gelungen. Dieser Ort sei literarisch und nicht real: „Eine mythologische Landschaft, namenlos wie die Erzählerin.“ Was sie jetzt erlebe, übersteige ihre wildesten Träume.