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der Türkei flammt der Streit um die syrischen Flüchtlinge wieder auf

Videos sind in der Türkei ein bedeutendes Mittel der politischen

Kommunikation. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan produziert regelmässig aufwendige Filme, um auf die Errungenschaften ihrer langen Amtszeit zu verweisen, ihre Sicht auf die nationale Geschichte darzustellen oder ihre Gegner anzugreifen.

Auch andere Akteure wissen die Macht des Mediums zu nutzen. Niemand war damit so erfolgreich wie der flüchtige Mafiaboss Sedat Peker. Seine Ausführungen über die Verstrickungen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen, die in einem Hotelzimmer in Dubai aufgezeichnet wurden, hielten das Land während Wochen in Atem.

«Lautlose Invasion»

Nun gibt erneut eine Videoproduktion zu reden. Fast vier Millionen Mal wurde der Film «Lautlose Invasion» bisher angesehen, seitdem er vergangene Woche auf der Videoplattform Youtube aufgeschaltet wurde . In dem viertelstündigen Machwerk wird das düstere Bild einer Türkei im Jahr 2043 gemalt, in der Araber das Land dominieren und Türken diskriminiert werden.

Am Ende des vor Vorurteilen triefenden Videos spricht die Filmemacherin Hande Karacasu in dramatischen Worten von den hohen Geburtenraten der syrischen Flüchtlinge, der titelgebenden lautlosen Invasion und der Notwendigkeit, zu handeln, bevor es zu spät sei.

Auftraggeber dieses filmischen Pamphlets ist Ümit Özdag, der Chef der kleinen, aber umso lauteren Zafer Partisi (Siegespartei). Die erst im August 2021 gegründete Kraft am äussersten rechten Rand kommt in Meinungsumfragen zwar nicht einmal auf ein Prozent der Stimmen. Mit ihrer regen und oftmals provokativen Präsenz in den sozialen Netzwerken versteht sie es aber, über ihre Grösse hinaus Aufmerksamkeit zu erregen.

Özdag, der in München Politik studiert hat, war früher Mitglied von Erdogans nationalistischem Koalitionspartner MHP und gehörte später, nach deren Abspaltung, der oppositionellen IYI-Partei an. Beiden im rechtsnationalen Lager verankerten Parteien wirft er vor, in der Flüchtlingsfrage nicht entschlossen genug aufzutreten. Regelmässig ruft er dazu auf, alle Flüchtlinge aus der Türkei auszuweisen.

Veränderte Stimmungslage

Die schlechte Wirtschaftslage und der damit verbundene dramatische Wohlstandsverlust stellen zwar mit Abstand die grösste Sorge der Türkinnen und Türken dar. Die Jahresinflation lag im April bei 70 Prozent – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Das unabhängige Forschungsinstitut Enag kam in seiner Berechnung vom Donnerstag auf eine Jahresinflation von schwindelerregenden 157 Prozent.

Doch auch die Flüchtlingsthematik ist politisch brisant. Denn die Stimmung gegenüber den 5,5 Millionen Ausländern im Land, von denen die grosse Mehrheit Flüchtlinge und Migranten sind, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Besonders im Fokus stehen die 3,7 Millionen Syrer, die in der Türkei temporären Schutz geniessen.

War zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs die Solidarität mit den in der Türkei Schutzsuchenden noch gross, werden sie gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zunehmend als Last wahrgenommen. Ein besonders in säkularen Kreisen tief verwurzelter Antiarabismus verstärkt das Phänomen. Polemische Äusserungen gegen Flüchtlinge und ihre vermeintlich grosszügige Unterstützung durch den Staat sind an der Tagesordnung. Mitunter kommt es auch zu Gewalt. Im vergangenen Sommer gab es in Ankara pogromartige Szenen gegen syrische Geschäfte.

Ein gefundenes Fressen für die Opposition

Die gewandelte Stimmungslage ist für Präsident Erdogan ein Problem. Die bereitwillige Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge war nicht nur ein humanitärer Akt, sondern auch eng mit Erdogans Ambitionen für eine Führungsrolle in der sunnitischen Welt verbunden. Entsprechend stark fällt die Kritik an ihm persönlich aus.

Nicht nur radikale Kräfte wie die Siegespartei, auch die gemässigten, grossen Oppositionsparteien versuchen mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr daraus Kapital zu schlagen. Der Krieg in Syrien sei vorüber, der Grund für den Aufenthalt nicht mehr gegeben, heisst es. Irgendwann müsse jeder Gast nach Hause gehen.

Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der Chef der kemalistischen CHP, verspricht im Falle eines Wahlsiegs Verhandlungen mit dem Regime in Damaskus über die – freilich unrealistische – Rückkehr aller syrischen Flüchtlinge. Hunderttausende von syrischen Kindern gehen hier zur Schule, es gibt Zehntausende von syrischen Geschäften.

In den vergangenen Wochen beschuldigte Kilicdaroglu die Regierung, Syrer in der Türkei in grossem Stil einzubürgern, um sich zusätzliche Wählerstimmen zu sichern. Bereits im Sommer 2021 hatte Kilicdaroglu angesichts der zu erwartenden Massenflucht aus Afghanistan nach dem Fall Kabuls den ungenügenden Schutz der türkischen Landesgrenze kritisiert.

Regierung zieht die Schrauben an

Angesichts seiner schlechten Umfragewerte kann der türkische Präsident diese Kritik nicht ignorieren. Wie vor den Lokalwahlen vor drei Jahren zieht die Regierung daher die Schrauben gegenüber den Syrern und anderen Ausländern im Land demonstrativ an.

Diese Woche kündigte Erdogan an, die Voraussetzungen für die Rückkehr von bis zu einer Million Menschen zu schaffen. Dafür will die Türkei in den syrischen Regionen unter Kontrolle verbündeter Kräfte 100 000 neue Häuser bauen. Noch vor einem Monat hatte Erdogan versichert, seine Regierung werde niemanden zurückschicken.

Auf Druck des nationalistischen Koalitionspartners MHP entschied die Regierung zudem, den Syrern dieses Jahr nicht zu erlauben, für die Feierlichkeiten zum Ende des Fastenmonats Ramadan zu Verwandten in der Heimat zu reisen. Zuvor hatte es eine Diskussion darüber gegeben, ob der Schutzstatus durch einen Heimaturlaub nicht verwirkt werde.

In der aufgeheizten Wahlkampfstimmung hat sich der Ton gegenüber den Syrerinnen und Syrern in der Türkei nochmals verhärtet. Für eine Debatte über langfristige Perspektiven für jene, die nach zehn Jahren im Land hier heimisch geworden sind, über Integration und die Voraussetzungen für ein gütliches Zusammenleben gibt es keinen Platz. Auf Dauer wird man sich aber diesen Fragen nicht verschliessen können.