Von Sören S. Sgries
Sitzt hier der politische Ziehvater mit seinem Sprössling an einem Tisch? Auf die Idee könnte man kommen, wenn Cem Özdemir und Danyal Bayaz über ihre politischen Leidenschaften sprechen. Auch persönlich scheinen beide auf einer Wellenlänge zu funken - ein paar Spötteleien gehören auch beim Gespräch in der RNZ dazu. Gerne erzählt Özdemir zudem davon, dass er ja schon Bayaz’ Vater kenne - dieser habe ihn früher als Journalist interviewt. Die Eltern: Die sind auch der großen Rahmen, der dieses Doppelinterview zusammenfassen soll. Denn den 53-jährigen Stuttgarter und den 35-jährigen Heidelberger verbindet nicht nur ihr Mandat als Bundestagsabgeordneter und die grüne Partei. Sie "teilen" auch den Migrationshintergrund - und machten ganz unterschiedliche Erfahrungen.
Herr Bayaz, Sie haben vor einiger Zeit über Cem Özdemir getwittert: "Ministerpräsident, Kanzler, VfB-Präsident: Ich traue ihm alles zu." Da klingt Bewunderung durch - auch, weil er für Ihre Karriere ein Vorbild sein könnte?
Bayaz: Wenn man in mein Zimmer im Bundestag kommt, hängt da Muhammad Ali an der Wand. Das ist meine Kategorie von Vorbildern.
Özdemir: Da kann ich nicht konkurrieren, im Boxen war ich eine Null.
Bayaz: Aber Cem Özdemir war sicher ein Grund, warum ich bei den Grünen aktiv geworden bin. Zwei Dinge waren es damals, die mich zu der Partei gebracht haben: Einerseits der Gedanke "Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben", das nachhaltige Wirtschaften. Aber auch das Eintreten für eine offene, liberale Gesellschaft. Und da spielte Cem Özdemir schon eine Rolle.
Spielte auch das Wissen eine Rolle, dass ein türkischer Name kein Hindernis ist, wenn man Spitzenpolitiker werden will?
Bayaz: Für mich persönlich ehrlich gesagt nicht. Ich bin in einer anderen Zeit und in Heidelberg auch in anderen Verhältnissen sozialisiert worden. Ich habe gemerkt, dass der Name Cem Özdemir in der politischen Öffentlichkeit kein so "normaler" Name wie Hans Müller ist. Aber ich glaube, bei den Grünen war die Herkunft immer nachrangig, es geht um Inhalte.
Der Name zweitrangig: Galt das für Sie, Herr Özdemir, 20 Jahre früher auch?
Özdemir: Nein, da war es noch nicht so. Aber genau das ist es, was mich motiviert hat und woran ich heute noch arbeite: Dass man die Menschen nicht danach beurteilt, wo sie herkommen, sondern wo sie hinwollen. Die Herkunft spielt für die meisten eine wichtige Rolle. Aber niemand will auf seine Herkunft reduziert werden.
Funktioniert das?
Özdemir: Wir alle sind doch wesentlich vielschichtiger, als es auf den ersten Blick scheint. Die einen sind Kurpfälzer, die anderen sind Schwaben. Die einen sind für Hoffenheim, die anderen drücken dem VfB Stuttgart die Daumen. In der Wahrnehmung dieser Vielschichtigkeit sind wir, glaube ich, ein erhebliches Stück weiter gekommen. Ich weiß noch, wie der Danyal auf der Landesliste kandidiert hat. Er redete ganz selbstverständlich über Wirtschaftspolitik, über Finanzpolitik, über Europa. Das hat mir unglaublich imponiert. Genau dafür habe ich immer gekämpft. Dass jemand, der Hans oder Gustav oder Detlef oder Eberhard heißt, über Migrationspolitik spricht - und ein Danyal über Europa und Finanzpolitik.
Ich habe mal im RNZ-Archiv gegraben. Ihr erstes Interview gaben Sie 1993, da wollten Sie erst in den Bundestag.
Özdemir: Jetzt habe ich ein bisschen Angst, was für einen Quatsch ich erzählt habe...
Worauf ich hinaus will: In der Überschrift wird extra betont, dass man mit "dem Deutschen Cem Özdemir" gesprochen hat. Ist Ihnen diese absurde Etikettierung damals eigentlich bewusst gewesen?
Özdemir: Mit dem viel zitierten Migrationshintergrund verbindet sich eine gewisse Demut: Man weiß und erlebt es, dass es auch der Mehrheitsgesellschaft etwas abverlangt, wenn plötzliche neue Gewohnheiten, neue Kulturen kommen, die man bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Deshalb habe ich immer versucht, auch viel zu erklären. Integration verlangt beiden Seiten viel ab - und wenn es Etikettierungen sind.
Sie waren, als erster Bundestagsabgeordneter mit türkischen Eltern, sehr schnell in der Einwanderer-Erklär-Rolle. Haben Sie dieses Thema bewusst gesucht?
Özdemir: Gar nicht. 1989, als ich für den Landesvorstand der Grünen kandidiert, habe ich von eiszeitlichen Glacialpflanzen, von Wanderfalken und Mülltrennung geredet. Das waren meine Themen.
Und dann wurden Sie in die Rolle des Migrationsexperten gedrängt?
Özdemir: Meine Kollegen im Bundestag wollten von mir lieber Themen rund um meine Herkunft besetzt sehen, sie sprachen mir ein angeborenes Expertentum auf diesem Feld zu - stimmt ja in gewisser Weise auch. Das ist nichts Verwerfliches, es wird mich immer begleiten. Aber ich will nicht ausschließlich der Migrations-Cem sein und habe auch immer an anderen Themen wie dem Umweltschutz, der ökologischen Modernisierung unserer Wirtschaft oder dem Kampf gegen Rechtspopulismus gearbeitet.
Herr Bayaz, erleben Sie das auch: Eine Reduzierung auf den türkischen Vater?
Bayaz: Es ist schon interessant: Ich bin hier in Heidelberg groß geworden. Eine internationale Stadt. Ein bisschen elitär und kosmopolitisch als Universitätsstadt. In der Politik hatte ich schon einen kleinen Realitätsschock. Ein Beispiel: Als die ganze Mesut-Özil-Geschichte losging, hatte ich im Sommerurlaub von Spiegel Online bis Süddeutsche plötzlich Anfragen.
Ihre Reaktion?
Bayaz: Ich habe was gesagt. Natürlich. Ich meide solche Themen nicht. Aber ich bin weder Migrations- noch Türkeipolitiker. Ich habe damals erklärt, dass ich gesellschaftlich schon einen neuen Nationalismus in der Migrantencommunity, einen neuen Rassismus auch im Parlament wahrnehme. Danach gab es sehr viele Nachfragen, wo ich denn die letzten Jahre gelebt hätte. Ob ich nicht wüsste, wie schwer der Alltag sein kann, wenn man Mehmet heißt. Zu meiner persönlichen Lebenserfahrung gehörte das nicht. Da wurden mir erst jetzt, im Bundestag, die Augen geöffnet.
Gleichzeitig sichert Ihnen das Thema große Aufmerksamkeit. Beispielsweise durch den FAZ-Gastbeitrag zu den türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen "Warum ich diesmal wählen gehe".
Özdemir: Die doppelte Staatsbürgerschaft hat übrigens nur Danyal. Im Gegensatz zu mir. Ich habe mit 16 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, sie mit 18 bekommen und wurde daraufhin aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen.
Nutzt man so eine Chance auf Öffentlichkeit auch ganz gerne, obwohl man lieber als Finanzexperte punkten würde?
Bayaz: Interessant, dass Sie das heute fragen. Ich habe damals Cem Özdemir um Rat gefragt. Er hat gesagt: Mach es ruhig. Mach es auch öffentlich. Aber mach Dich auf einen kleinen Shitstorm gefasst - den gab es dann durchaus. Aber mir war es ein wichtiges Anliegen. Mein Herz blutet, wenn ich die Konflikte sehe, die durch deutsch-türkische Familien und Freundschaften verlaufen. Und wir haben ja nicht nur eine schwierige Politik in der Türkei. Wir haben auch eine recht einseitige Türkei-Berichterstattung. Wir nehmen ja fast nur Erdogan wahr. Dabei gibt es eine - wenn auch schwache - Opposition. Es gibt eine Zivilgesellschaft. Ich sehe es als meine Verantwortung, denen auch eine Stimme zu geben.
Herr Özdemir, Sie konnten sich zu Beginn Ihrer Karriere noch über eine Türkei auf dem Modernisierungskurs äußern, über EU-Beitrittshoffnungen. Das war angenehmer, oder?
Özdemir: Ja. Es gab damals die Hoffnung, dass es in der Türkei etwas Vergleichbares geben könnte wie die CDU bei uns: Eine Partei, die eine Verbindung zur Religion hat, in dem Fall zum Islam, gleichzeitig aber auch fest in der Demokratie verankert ist. Am Anfang war es so. Wirtschaftsreformen, Zypernpolitik, selbst in der schwierigen Armenierfrage gab es unter Erdogan einen vorsichtigen Öffnungsprozess. Mit der PKK hat er sogar Geheimverhandlungen geführt. Heute ist er ein autoritärer Herrscher wie aus dem Bilderbuch.
Spüren Sie, dass dadurch die Distanzen innerhalb der deutschen Gesellschaft, zwischen türkischen Einwanderern und dem Rest, wieder wächst?
Özdemir: Klar. Nehmen Sie Ditib, die viele Moscheen betreibt. Viele aus der Türkei stammende Muslime finden in den Moscheen Austausch und Halt, plaudern mit ihren Freunden bei einem Glas Tee oder vertrauen auf den Iman bei wichtigen Ereignissen in der Familie. Die Ditib-Führung allerdings missbraucht diese Gemeinschaft für Ziele, die mit Religion nichts zu tun haben. Das Spitzelwesen und die Denunziation von Erdogan-Gegnern hier in Deutschland sind völlig inakzeptabel.
Sie sagten, Ihr Wunsch sei es, dass Herkunft keine Rolle mehr spielt. Aktuell zeichnet sich eine Gegenentwicklung ab: Politikerinnen sollen "in Anatolien entsorgt" werden oder ihnen wird vorgeworfen, sie könnten höchstens "ein Parlament in Anatolien führen". Der Migrationshintergrund wird als Kampfinstrument genutzt.
Özdemir: Die Nationalisten in der Türkei und in Deutschland unterscheiden sich da weniger, als sie sich eingestehen wollen. Sie haben ein Problem mit Meinungs- und Pressefreiheit. Sie haben ein Problem mit selbstbewussten Frauen. Umso wichtiger ist es, dass wir unsere liberale Demokratie wertschätzen und verteidigen. Die AfD versucht, die Demokratie von innen zu zersetzen. Ihre Loyalität zu Wladimir Putin ist größer als zum Grundgesetz. Da ist Wehrhaftigkeit gefragt.
Herr Bayaz, fühlen Sie sich durch die Auseinandersetzung mit Rassismus auch gezwungen, ein Thema zu bearbeiten, das Sie ja eigentlich nie als drängend empfunden haben?
Bayaz: Ja, aber gleich mit einem Aber: Nicht aufgrund identitärer Fragen, sondern weil es meine Aufgabe als Abgeordneter ist. Identität spielt wieder eine Rolle - auch aufgrund größerer Unsicherheit beispielsweise durch die Digitalisierung und Globalisierung. Die Abgrenzung über Begriffe wie "Anatolien" ist da ein Hinweis. Ebenso wachsender Antisemitismus. Identität und Heimat sind wichtig. Es muss dabei aber immer klar sein: Rassismus und Ausgrenzung sind niemals akzeptabel.
Hätten Sie sich 2005, als Sie bei den Grünen eingetreten sind, vorstellen können, dass Ihre Partei einmal Heimat-Gespräch führt und mit Zitaten aus der Nationalhymne Veranstaltungen betitelt?
Bayaz: Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich habe ich mir auch keinen grünen Ministerpräsidenten vorstellen können. Keine Grünen, die im Parlament aus Überzeugung die Nationalhymne mitsingen und Veranstaltungen zu Heimat machen. Da hat sich etwas verändert.
Ist diese Entwicklung etwas Gutes, oder ein Warnsignal, dass eine Partei, die das nie für nötig hielt, jetzt nationale Symbole besetzen muss?
Bayaz: Beides. Es zeigt, dass sich in der Gesellschaft etwas verändert hat. Auch wenn wir das beste, das modernste, das offenste Deutschland haben, das wir je hatten, stehen diese Errungenschaften auch wieder auf dem Spiel. Dass auch wir Grünen da im buchstäblichen Sinne Flagge zeigen, heißt, dass die Demokratie wehrhaft ist.
Özdemir: Wir dürfen die Symbole dieser Republik nicht denen überlassen, die sie innerlich verachten, die für das Gegenteil stehen. Das Hambacher Fest, die Paulskirche, die Gründung des Nationalstaats 1918, die Weimarer Republik, die friedliche Revolution in Ostdeutschland: Das sind alles Ereignisse, die in der freiheitlichen Tradition dieses Landes stehen, nicht in einer autoritären. Das wird verkörpert durch Schwarz-Rot-Gold. Deutschsein macht zudem die Verantwortung für die dunklen Seiten unserer Geschichte aus.
Bayaz: Dass das die Rechtspopulisten auf die Palme bringt, zeigt ja, dass unsere Veranstaltungen dazu ja regelmäßig von organisierten rechten Störern besucht werden. Was wir machen, dazu noch jemand mit unseren Namen, das ist für die eine Provokation. Und das ist gut.
Zum Thema Alltagsrassismus, der unter dem Schlagwort metwo sehr intensiv diskutiert wurde. Wie erklären Sie sich, dass Sie diese Erfahrungen eigentlich nicht gemacht haben. Glück?
Bayaz: Das habe ich mich auch gefragt. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht ist Heidelberg ein super Ort. Vielleicht habe ich auch nicht genau hingesehen. Auf dem Bolzplatz wurden schon unschöne Sachen gesagt. Ich bin auch ein großer Hiphop-Fan. Da sehe ich inzwischen Texte auch sehr viel kritischer. Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus haben in der Politik, aber auch in anderen, Bereichen wie Rapmusik nichts zu suchen. Da habe ich vielleicht auch eine sehr persönliche Lernkurve hingelegt.
Herr Özdemir, wie sehen Sie das: War man in den letzten Jahren, weil man optimistisch sein wollte, zu blind für Alltagsrassismus?
Özdemir: So ganz neu sind die Debatten ja nicht. 1979 mit der Revolution im Iran war der Islam auch in Deutschland auf der Tagesordnung. Der 11. September 2001 hat das massiv verstärkt. Wir hatten früh erste Leitkulturdebatten. Es sind also in der Sache viele Wiedergänger dabei. Verändert hat sich allerdings Austragungsort und Tonfall: Statt Poltern am Stammtisch wird heute auf Facebook und Twitter gepöbelt, Debatten radikalisieren sich in der Filterblase von sozialen Medien schneller. Viele verkennen, dass eine Morddrohung, eine Beleidigung im Netz das gleiche ist wie auf dem Papier.
Bayaz: Und das Gefährliche ist, dass sich diese Sprache aus dem Netz auch im Alltag wiederfindet. Was im Bundestag, im Herzen der Demokratie heute für Reden gehalten werden können: das war für mich bisher undenkbar.
Wird vielleicht nicht nur sehr ehrlich sichtbar, was in der Gesellschaft vorhanden ist?
Özdemir: Ja. Ich erinnere mich noch an Zeiten, als Leute aus der Zeitung einzelne Buchstaben und Wörter ausgeschnitten haben, um mir anonyme Beleidigungen zu schicken. Ich habe die leider nicht aufgehoben. Das wäre ja fast schon museal. Der Hass ist aber kein neues Phänomen - auch wenn sich einige ermutigt fühlen auch durch die neue Fraktion im Parlament, die den Hass zu ihrem Geschäft gemacht hat.
Bayaz: Was sich verändert hat: Wir sind offener geworden. Schwule küssen sich auf der Straße. Schwarze sitzen im Parlament. Frauen kommentieren Fußballspiele. Das ist für diejenigen, die damit nicht klar kommen, eine Provokation - darum werden sie lauter.
Wie begegnen Sie dem?
Özdemir: Wir müssen unterscheiden zwischen den Funktionären der AfD und deren Wählern. Wer heute in der AfD Funktionär ist, der weiß, dass er an der Seite von Hetzern wie Björn Höcke steht. Da gibt es keine Entschuldigung. Die Wähler müssten da aber nicht alle sein. Um die muss man sich bemühen, ihnen Angebote machen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es da draußen Menschen mit grundlegenden Problemen gibt. Dazu müssen wir miteinander ins Gespräch kommen.
Mesut Özil beklagte: Spielt er gut Fußball, ist er der Deutsche. Spielt er schlechte, ist er der Türke. Kennen Sie diese doppelten Maßstäbe?
Özemir: Ich war Handballtorwart. Aber da spielte die Herkunft keine Rolle. Ich habe Schwäbisch geschwätzt wie die anderen. Das Nicht-dazu-gehören habe ich erst bei einem Schüleraustausch mit England gemerkt: Bei der Durchfahrt durch Belgien musste ich den Zug verlassen, weil ich kein Durchreise-Visum hatte. Da habe ich gemerkt: Das Beherrschen der Sprache, selbst hier geboren zu sein, das reicht manchen nicht.
Da geht es um den Pass, um einen rein formalen, rechtlichen Akt.
Özdemir: Trotzdem ist es nicht schön, wenn du in der Realschule bist, in der Mittelstufe, und den Zug verlassen muss, weil du den falschen Pass hast. Du gehörst doch dazu! Was ich aber viel mehr gemerkt habe: Ich bin Arbeiterkind. Meine Eltern arbeiteten Schicht. Niemand konnte bei den Hausaufgaben helfen. Zuhause stand kein Brockhaus, da gab es keine deutsche Zeitung - anders als in Mittelschichtsfamilien. Und das, die Kopplung von Chancengerechtigkeit ans Elternhaus, ist weiterhin ein großes Problem: Sowohl für die soziale Gerechtigkeit als auch für die Integration.
Danyal Bayaz kommt aus einer Mittelschicht-Familie, ging aufs Gymnasium, arbeitete zuletzt als Unternehmensberater statt wie Sie als Sozialpädagoge. Ist das eine Gefahr: Dass in der Politik die Aufsteigergeschichten seltener werden?
Özdemir: Ihm ist ja auch nicht alles geschenkt worden. Er musste auch etwas leisten.
Bayaz: Nein, auch für mich ist nichts vom Himmel gefallen. Es stimmt aber schon, dass in Parteien ein überdurchschnittlicher Akademisierungs- und Bildungsgrad herrscht. Aber wenn ich mir unsere aktuellen Kommunalwahllisten anschaue, dann sind sie doch sehr gut durchmischt. Trotzdem müssen wir uns immer grundsätzlich hinterfragen. Wenn man eine Sechs-Prozent-Oppositionspartei sein möchte, kann man in seiner Blase bleiben. Sonst nicht.
Özdemir: Das teile ich. Ich habe mich oft dabei ertappt, dass ich bei Debatten in der Partei die Wortmeldungen von Arbeitern vermisse. Die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen wird beispielsweise von Akademikern, von Freiberuflern geführt. Für die ist das interessant. Für jemanden aus einem Elternhaus wie meinem ist aber viel wichtiger, dass die Kitas, die Schulen exzellent sind. Dass es ein Bafög gibt. Da entscheiden sich die Chancen.
Bayaz: Ich finde, die führen wir aber durchaus, die relevanten Debatten und streiten kontrovers. Zum Beispiel in der Sozialpolitik. Ich finde den Grundgedanken von "Fördern und Fordern" weiterhin richtig. Viel wichtiger ist doch, dass wir das Aufstiegsversprechen wieder ermöglichen. Dass alle in unserer Gesellschaft ankommen können - gerade in Zeiten des digitalen Wandels.
Eingestiegen sind wir mit der Frage nach den Vorbildern. Herr Bayaz, in 20 Jahren: Womit wären Sie gern zum Vorbild geworden?
Bayaz: Ich bin in die Politik gegangen, um für eine innovative Wirtschaftspolitik, eine nachhaltige Finanzpolitik zu kämpfen und die Digitalisierung zu gestalten. Aber vielleicht geht es gerade um mehr: Wir müssen die Errungenschaften der liberalen Demokratie verteidigen. Auch überparteilich. Ich stehe daher auch in regelmäßigen Gesprächen mit Abgeordneten aller demokratischen Parteien. Dafür haben wir als junge Generation eine Verantwortung und Verpflichtung. Wenn ich da meinen kleinen Beitrag leisten kann, wäre ich sehr stolz.
Herr Özdemir, welchen Rat geben Sie noch mit auf diesen Weg?
Özdemir: Es gibt ein schönes Zitat von Groucho Marx: "Years after years I found the answer of the question - but what was the question?" Das zu vermeiden, das ist wichtig. Nie vergessen, wo man h