Türkische Wirtschaft: Aus dem Takt unter Erdoğan

                                          Geschichte von Andreas Mihm/ FAZ

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                                          Die horrende Inflation belastet das Land seit Jahren. © Lucas Bäuml

 

Es wäre vermessen gewesen, zu erwarten, dass ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei mit 53.000 Toten die materiellen Schäden beseitigt, die Städte wiederaufgebaut sind und Hunderttausende ihre Zelte und Wohncontainer gegen feste Behausungen hätten eintauschen können. Bis die Zerstörungen behoben sind, werden Jahre vergehen.

Dass den Betroffenen der Wiederaufbau nicht schnell genug geht, liegt auf der Hand. Hätte der über allem schwebende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ihnen nicht von Anfang an zu viel versprochen, wäre die Enttäuschung heute wohl kleiner – und der Protest leiser. Auf mehr als 100 Milliarden Dollar werden die Kosten der Wiederherstellung von 680.000 kollabierten Wohnungen, aufgeplatzten Straßen, geborstenen Leitungen und umgeknickten Strommasten geschätzt.

Das alles wäre für ein Land mit einer intakten Wirtschaft schwer zu verkraften. Doch in der Türkei, deren Wirtschaftsleistung kaum ein Viertel der deutschen ausmacht, arbeitet die Wirtschaft unter dem eigenwilligen Dirigat ihres Staatspräsidenten schon lang nicht mehr im Takt. Die von Erdoğan gegen jedweden wirtschaftlichen Verstand verfochtene Niedrigzinspolitik hat zu großen Verheerungen geführt, mit Folgen für den Wiederaufbau: Bei einem Anstieg der Baukosten um 66 Prozent und der Arbeitslosen um 111 Prozent sind Angebote schwer kalkulierbar. Baufirmen suchen händeringend Personal – gerne aus dem Ausland.

Horrende Inflation macht seit Jahren großen Kummer

Die horrende Inflation macht dem Land seit Jahren großen Kummer, die Lira ist chronisch schwach. Die Gemengelage schreckt Auslandsinvestoren ab. Die Direktinvestitionen schrumpften im vergangenen Jahr fast um ein Drittel. Finanzinvestoren ließen die Finger schon länger von auf Lira lautenden Staatsanleihen und türkischen Aktien. Deren Boom ging vor allem auf inländische Käufer zurück, die der Inflation ein Schnippchen schlagen wollten und auf dem leer gefegten, überhitzten Immobilienmarkt nichts Passendes fanden.

Erdoğan hatte darauf nach der Wiederwahl reagiert und die Rückkehr zu einer orthodoxen Finanz- und Geldpolitik zugelassen. Mit Finanzminister Mehmet Şimşek und Notenbankpräsidentin Hafize Gaye Erkan stiegen nicht nur die Zinsen seit Juni von 8,5 auf 45 Prozent, es wuchs auch ihr Ansehen: Internationales Kapital kam vorsichtig zurück.

Umso gefährlicher der überraschende Rücktritt Erkans nach acht Monaten am Wochenende. Die Begründung, es gebe eine „Rufmordkampa­gne“ in den Medien gegen sie, lässt Fragen offen. Doch die Märkte blieben anders als bei früheren Umbesetzungen an der Notenbankspitze ruhig. Das lag daran, dass dem Abschied diesmal kein Streit um die Geldpolitik vorausging und Ankara zusicherte, es bleibe beim eingeschlagenen Kurs. Den repräsentiert künftig der eilig vom Vizegouverneur zum Notenbankchef beförderte Fatih Karahan.

Um eine Rosskur kommt das Land nicht herum

Der musste allerdings am ersten Amtstag eine Hiobsbotschaft verdauen. Die Inflation war im Januar auf 65 Prozent gestiegen, so stark wie seit August nicht mehr. Vor allem das große Plus der Kerninflation deutet darauf hin, dass der zugrunde liegende Druck auf die Verbraucherpreise in der Türkei höher ist als gedacht. Die wiederum werden von jüngsten Renten- und Mindestlohnerhöhungen getrieben, die die Regierung zum Ausgleich der Teuerung gewährt.

Weiterhin hohe Einnahmen aus dem blühenden Tourismusgeschäft und eine Exportoffensive sollten zwar helfen, die durch teure Importe gerissene Lücke in der Leistungsbilanz zu verringern. Parallel dürfte die Regierung versuchen, das Budget durch den Verkauf von Infrastruktur zu entlasten – an arabische Geldgeber. Auch Russland, dessen Präsident Putin sich zum Besuch angekündigt hat, bleibt für Erdoğan ein wichtiger Partner, vor allem in der Energiepolitik.

Damit allein wird es nicht getan sein. Für eine nachhaltige Eindämmung der Inflation bleibt auch der Türkei nichts als die Rosskur langer Zeit hoher Zinsen übrig. Sie wird die Nachfrage senken und das Wirtschaftswachstum dämpfen.

Die abgetretene Gouverneurin Erkan hatte schon im November signalisiert, dass das Ende der Zinserhöhungen in Sicht sei. Womöglich war das vor den Kommunalwahlen im März mehr eine Konzession an den Präsidenten denn die Folge einer nüchternen, makroökonomischen Analyse. Karahan wird beweisen müssen, wie unabhängig vom Palast er regieren will – und kann. Fürs Erste ließ er die alte und von vielen Analysten als zu optimistisch eingeschätzte Inflationsprognose mit 36 Prozent zum Jahresende schon einmal unverändert. Das ist ein Warnsignal.