Brief aus Istanbul: Erdoğans verschobene Mondfahrt

Geschichte von Bülent Mumay    Faz

 

Schauplatz ist ein Einkaufs­zen­trum auf der anatolischen Seite von Istanbul, der Stadt, die sich über zwei Kontinente erstreckt. Ein paar Tage vor Silvester. Aufgrund der Wirtschaftskrise ist auf den Gängen der Passage im Vergleich zu früher nur wenig los. Ein Aufschrei schreckt die Besucher auf, die vielleicht nur zum Bummel an den geschmückten Schaufenstern entlang gekommen sind, wenn sie sich nichts leisten können. Ein Mann hat im dritten Stock das Geländer zum Lichthof überwunden, ruft: „Ich hungere, meine Kinder hungern, ich habe 15.000 Lira Schulden!“ und springt in die Tiefe.

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Yılmaz Çakır wollte sterben, weil er seine Schulden von umgerechnet rund 460 Euro nicht bezahlen und seine drei Kinder, die mit der Mutter daheim auf ihn warteten, nicht ernähren konnte. Der 42-Jährige war bereits seit einigen Jahren arbeitslos, verdingte sich verzweifelt als Lastenträger und sammelte, als auch das nicht zum Unterhalt der Familie reichte, noch Altpapier aus dem Müll. Was er verdiente, war dennoch zu wenig zum Leben. Der Familie brachte er abgelaufene Lebensmittel mit, die Supermärkte zur Entsorgung vor die Tür stellen. Er überlebte den Sprung, brach sich aber sämtliche Knochen. Im Moment kämpft er in einem Istanbuler Krankenhaus um sein Leben. Als Lastenträger kann Çakır nicht mehr arbeiten, auch kein Papier mehr sammeln. Ein Wunder, wenn er je wieder laufen kann.ieser traurige Vorfall ereignete sich in den letzten Tagen des Jahres 2023. Dabei waren für dieses Jahr, das Jahr des 100. Jubiläums der Republik, so große Versprechungen gemacht worden . . . Was gab es nicht alles unter den Zielen, die Erdoğan bereits 2011 für 2023 verkündet hatte! Die Arbeitslosigkeit, die Yılmaz Çakır in den Selbstmordversuch trieb, sollte unter 5 Prozent sinken. Jüngst wiesen aber sogar die offiziellen, vom Palast manipulierten Zahlen die Arbeitslosenquote mit 8,2 Prozent aus. Tatsächlich aber liegt sie nach Gewerkschaftsangaben über 20 Prozent. Unser Pro-Kopf-Einkommen sollte auf 25.000 Dollar steigen. Mit dieser Summe hätten Menschen wie Yılmaz Çakır Lebensmittel kaufen können, die nicht verdorben sind. Auch das gelang nicht, das aktuelle Pro-Kopf-Einkommen liegt unter 10.000 Dollar, damit ist es niedriger als noch 2011, als Erdoğan das Versprechen gemacht hatte. Am selben Tag, als der Vater von drei Kindern aus purer Existenznot sterben wollte, wurde im Parlament der Jahresetat 2024 für Erdoğans 1000-Zimmer-Palast mit den Stimmen der Regierung gebilligt. Pro Tag wird der Palast eine Million Euro ausgeben, 700 Euro pro Minute. Die 460 Euro Schulden, die Çakır nicht begleichen konnte und deshalb sterben wollte, entsprechen 39 Sekunden von Erdoğans Ausgaben.

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Bülent Mumay © privat

Dieser Kontrast macht mich schaudern, wenn ich bloß darüber schreibe, streifen wir die von ihm geschaffene Atmosphäre ab. Die Ziele, die Erdoğan für 2023 verkündet hatte, betrafen nicht allein die Wirtschaft. Zwei Jahre zuvor machte Erdoğan ein recht phantastisches Versprechen: 2023 würden wir mit eigenem Raumschiff ins All fliegen, und zwar nicht auf gewöhnliche Weise, sondern mit einer harten Landung: „Ende 2023 werden wir mit unserer nationalen und eigenen Hy­brid­rakete, die wir in einer nahen Erdumlaufbahn zünden werden, den Mond erreichen und eine harte Landung durchführen.“ Es sei daran erinnert, was Berat Albayrak, Erdoğans Schwiegersohn und Ex-Wirtschaftsminister, mit dem gemeinsam er die Wirtschaft zugrunde richtete, vor ein paar Jahren kundgetan hatte: „Wenn unser Präsident sagt: ‚Ich baue eine vierspurige Autobahn auf dem Mond‘, gibt es Wähler bei uns, die ihm das abnehmen.“ Er hatte nicht unrecht. Das wusste Erdoğan und versprach die harte Landung auf dem Mond.

Er will eine harte Landung durchführen

Nun, das Jahr 2023 ist vorüber, auf dem Mond konnten wir weder eine harte noch eine weiche Landung hinlegen, geschweige denn auch nur über die Troposphäre, die unterste Schicht der Atmosphäre, hinauskommen. Doch ich will nicht unfair sein, wir haben zwar kein komplett eigenes Gefährt für die Raumfahrt hergestellt, schicken aber durchaus einen Türken ins All. Wie? Mit einem Ticket von einem Unternehmen, das Touristen ins All bringt. Unter Aufwendung einer Summe von rund fünfzig Millionen Euro des Volkes, das sich in Armut windet. Übrigens, was glauben Sie, was die Türkische Raumfahrtagentur, der keine harte Mondlandung gelang, in den letzten Tagen des Jahres 2023 tat? Sie kaufte für rund 37.000 Euro Unterwäsche, Regenbekleidung und Mützen. Wozu? Wir wissen nicht, wie das Wetter im All ist, weil wir noch nicht da waren, aber in Ankara ist es dieser Tage kalt. Lassen Sie mich diesen Absatz mit einer Aussage Erdoğans beschließen, dem es nicht gelungen war, die Ziele für 2023 zu erreichen: „Die Ziele für 2023 waren der Anfang, der eigentliche Durchbruch erfolgt 2024.“ Irgendwie bekomme ich es gerade mit der Angst zu tun.

Falls auf Ihrer Miene ein trauriges Lächeln aufgetaucht ist, ist es an der Zeit, es zu vertreiben. Ich will Ihnen erzählen, wie Erdoğans Wirtschaftspolitik nicht bloß die Gegenwart des Landes verdüstert, sondern auch seine Zukunft. Der offiziellen Statistik zufolge mussten in den letzten zwei Jahren mit ihrer verschärften Wirtschaftskrise nahezu 730.000 Studenten ihr Studium aufgeben und zu ihren Familien zurückkehren, weil sie die Kosten für Unterkunft und Unterhalt nicht mehr aufbringen konnten. Zukunftsängste sind ein weiterer Grund dafür, dass sie das Studium abbrachen. In der Türkei vor Erdoğan war ein Studium der Schlüssel zu einem guten Beruf und einer Arbeit, die ein gutes Auskommen sicherte. Jetzt nicht mehr. Aus der Falle des mittleren Einkommens kam die Türkei nicht heraus, vielmehr begann sie, sich dank des Erdoğan-Regimes in Armut anzugleichen. Studiert zu haben bedeutet längst nicht mehr, auch einen Job zu bekommen; und wer Arbeit findet, fängt mit Mindestlohn das Berufsleben an.

Religion als Mörtel der Gesellschaft

Auch die Gehälter früherer Universitätsabsolventen sinken. Während der Lohn von Arbeitnehmern mit einfachem Primarschulabschluss in den vergangenen sechzehn Jahren um beinahe 1000 Prozent stieg, stagnierte der Anstieg der Gehälter von Hochschulabsolventen bei 600 Prozent. Angesichts dieses Ta­bleaus verlassen zahlreiche junge Leute die Hochschulen, an denen sie eh unter etlichen Schwierigkeiten studieren, und bemühen sich um Jobs für geringer Qualifizierte. Und wem spielt es in die Karten, wenn Hochqualifizierte weniger verdienen und das Interesse am Studium abnimmt? Natürlich dem Palastregime. Als Beleg dafür lassen Sie mich anführen, was ein AKP-Minister einmal in dies

dieser Angelegenheit sagte: „Bei steigender Bildung verringern sich die Stimmen für die AKP.“

Aus ebendiesem Grund ist Erdoğan bestrebt, die Religion zum Mörtel der Gesellschaft zu machen und seine Macht zu zementieren, indem er die Gesellschaft zunehmend islamisiert. Er öffnet religiösen Orden und Gemeinschaften die Tore zum Staat, um sein politisches Leben zu verlängern. In Bildungs- und Gesundheitswesen, in Handel und Politik, in allen Bereichen lässt er Initiativen zu, die eine Bedrohung für das säkulare Leben darstellen. Wenn die Religion dermaßen ins Zentrum rückt, wirkt sich das natürlich auch auf die Populärkultur aus. Religiöse Orden, die in fast jedem Viertel Logen unterhalten, sind mittlerweile auch Thema von Fernsehserien, wie alles, was in der Gesellschaft virulent ist.

Zwei Serien, die die Heuchelei religiöser Orden thematisieren und zeigen, wie sie allmählich Kon­trolle über den Staat erlangen, wie das von den Anführern solcher Gemeinschaften empfohlene Leben im Widerspruch zum echten Leben steht, und damit Einschaltrekorde brachen, haben jüngst sowohl Islamisten als auch die Erdoğan-Regierung heftig erzürnt. Sie wurden mit Bußgeldern und Sendeverbot belegt, zuvor erteilte Drehgenehmigungen für Außenaufnahmen wurden zurückgezogen. Ein paar Tage später wurde dann eine Pro-Gaza-Kundgebung, auf der Erdoğans Sohn die Eröffnungsrede hielt, zu einer Machtdemonstration religiöser Orden und Gemeinschaften. Etliche Zehntausend religiös-fundamentalistische Männer mit Transparenten mit arabischen Aufschriften in Händen riefen nach der Scharia und forderten die Wiedererrichtung des Kalifats. Hundert Jahre nachdem Atatürk es abgeschafft hatte!

 Glauben Sie immer noch, Erdoğans Ziel sei die Raumfahrt? Ich sage lieber nicht, was es ist. Sie können es sich denken, und ich will mich nicht erneut eines „Vergehens“ schuldig machen und die zur Bewährung ausgesetzten zwanzig Monate Haft antreten müssen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Bülent Mumay © privat