Gazastreifen: Warum ist die Lage in Israel eskaliert?

Artikel von Isabelle Daniel, Katharina Benninghoff  (Zeit Online )

 

Raketen auf Israel und Vergeltungsschläge: Die Gewalt im Nahen Osten ist außer Kontrolle. Was ist passiert und wie fallen die Reaktionen aus – ein Überblick.

 

Teilnehmer einer Hamas-Kundgebung in Dschabalia im nördlichen Gazastreifen

Teilnehmer einer Hamas-Kundgebung in Dschabalia im nördlichen Gazastreifen © Arafat Barbakh/​Reuters

 

Am frühen Samstagmorgen haben militante Palästinenser einen überraschenden Großangriff auf Israel gestartet. Die Sicherheitslage in Nahost hatte sich bereits seit Jahresbeginn verschärft. Was ist genau passiert? Wie fallen die Reaktionen auf den Angriff aus? Wer sind die wichtigsten Akteure im Gazastreifen – und ist Frieden zwischen Israel und den Palästinensern ohne eine Beteiligung radikaler Gruppen möglich? Antworten auf die wichtigsten Fragen

Was ist in Israel passiert?

Am Samstagmorgen ab etwa 6:30 Uhr hat die islamistische Hamas Israel angegriffen. Militante Palästinenser sollen über Land, See und Luft nach Israel eingedrungen sein – zum Teil mit eingeschleusten Kämpfern. Wie sie trotz strenger Grenzkontrollen nach Israel vordringen konnten, war zunächst unklar. Es soll mehr als 40 Tote und hunderte Verletzte geben. Israelische Zivilisten sollen als Geiseln genommen worden sein. Das Land wurde offiziell in Kriegsbereitschaft versetzt. 

"Bürger Israels, wir sind im Krieg", sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Ein Armeesprecher bestätigte, dass israelische Kampfflugzeuge als Reaktion den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen am Mittelmeer bombardiert hat. Im Gazastreifen sollen mindestens neun Menschen getötet worden sein. An mehreren Orten entlang der Grenze dauern die Feuergefechte zwischen der israelischen Armee und palästinensischen Angreifern an. Der Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir hat den nationalen Notstand ausgerufen. Er soll am Samstagabend landesweit in Kraft treten.

Warum ist die Lage eskaliert?

Bisher ist die Lage undurchsichtig. Die Hamas sprach von einer "Militäroperation" gegen Israel. Ihr Militärchef Mohammed Deif sagte in einer Botschaft, Hamas habe beschlossen, "israelischen Verbrechen ein Ende zu setzen". Offenbar war der Angriff von langer Hand geplant. Unsere Nahostkorrespondentin Lea Frehse schreibt, dass die Hamas mit der Eskalation versuchen könnte, eine Normalisierung zu verhindern. Seit mehreren Woche

Saudi-Arabien und Israel über eine Normalisierung ihrer Beziehungen und diese würde für die Palästinenser wohl das Ende jeder Aussicht auf Unabhängigkeit bedeuten.

Regelmäßig eskaliert die Gewalt zwischen Israel und militanten Palästinensern aus dem Gazastreifen, seit 2008 gab es drei Kriege. In den vergangenen Monaten verschärfte sich der Konflikt erneut. Bereits Anfang Mai schienen die Zeichen im Konflikt zwischen Israel und Palästinensern aus dem Gazastreifen wieder auf Krieg zu stehen: Nach dem Tod des Islamisten Chader Adnan in einem israelischen Gefängnis beschossen der Islamische Dschihad und Hamas Israel mit Raketen, die israelische Armee reagierte mit Luftangriffen auf den Gazastreifen. Seit Mitte Mai galt eine von Ägypten vermittelte Waffenruhe zwischen Israel und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad.

Rechtsradikale Politiker in der israelischen Regierung, wie der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, machen außerdem seit Monaten Stimmung gegen Palästinenser und fordern härtere Beschränkungen für sie.

Wie fallen die internationalen Reaktionen auf den Angriff aus?

Internationale Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilten den Angriff. "Israel hat unsere volle Solidarität & das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen Terror zu verteidigen", postete Baerbock auf X. Die USA verurteilen den Großangriff als Tat von "Terroristen". 

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief alle Seiten zur Zurückhaltung auf: "Wir rufen die Parteien dazu auf, angesichts der Ereignisse in Israel heute Morgen mit Zurückhaltung zu handeln und von impulsiven Schritten, die die Spannungen verschärfen, abzusehen." Die Türkei und Israel hatten sich nach einem jahrelangen Zerwürfnis zuletzt um Wiederannäherung bemüht. 

Der Iran begrüßte dagegen den Angriff. "Wir beglückwünschen die palästinensischen Kämpfer", sagt Rahim Safawi, ein Berater von Irans geistlichem und staatlichem Oberhaupt Ajatollah Ali Chamenei. Aus Sicht des Golf-Emirats Katar sei allein Israel für die Eskalation verantwortlich. Katar rief beide Seiten zur Mäßigung auf, hieß es in einer Mitteilung des Außenministeriums. Saudi-Arabien rief in einer Mitteilung des Außenministeriums zu einem "sofortigen Ende der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern" auf.

Wie war die Lage im Gazastreifen vor dem Angriff?

Seit der Machtübernahme der Hamas 2007 steht der Gazastreifen unter einer De-facto-Blockade Israels und Ägyptens. Israel kontrolliert praktisch alle Grenzübergänge zwischen dem Küstenstreifen und israelischem Staatsgebiet. Ein Großteil der rund 2,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Gazastreifens ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Auch die Bundesregierung unterstützt humanitäre Hilfsmaßnahmen im Gazastreifen und dem Westjordanland in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Insgesamt seien 2022 knapp 81 Millionen Euro für humanitäre Maßnahmen in die Palästinensergebiete geflossen, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Mindestens rund 54 Millionen Euro davon gingen demnach in den Gazastreifen, wo ein Schwerpunkt auf der Nahrungsmittelnothilfe liege. 

Geld erhalten die Palästinensergebiete auch aus dem Budget des Bundesentwicklungsministeriums, das in den Jahren 2021 und 2022 insgesamt 132,5 Millionen Euro für Projekte im Gazastreifen, dem Westjordanland sowie Ost-Jerusalem zur Verfügung stellte. 

Wer regiert im Gazastreifen?

Seit 2007 beherrscht die islamistische Hamas den Gazastreifen, die von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird. Die Hamas entstand während der ersten Intifada 1987, der Name steht als Abkürzung für Harakat al-Mukawama al-Islamija – Bewegung des Islamischen Widerstands. Sie spricht Israel das Existenzrecht ab; die Kassam-Brigaden als ihr militärischer Arm greifen den Staat regelmäßig mit Raketen an. In ihrer Charta von 1988 bezieht sich die Hamas auf antisemitische Verschwörungsmythen wie die "Protokolle der Weisen von Zion" und begründet mit diesen antisemitischen Narrativen ihren "Kampf gegen den globalen Zionismus".

Innerpalästinensisch rivalisiert die Hamas mit der in Ramallah regierenden Fatah-Bewegung von Mahmud Abbas und versucht, sich als deren Gegengewicht zu etablieren. In Gaza-Stadt stellt die Hamas Ministerien, das Justizsystem und andere Verwaltungsbehörden sowie die Sicherheitsorgane.

Wer ist der Palästinensische Islamische Dschihad?

Gegründet wurde der Palästinensische Islamische Dschihad Anfang der achtziger Jahre von palästinensischen Studenten im Gazastreifen. Wie die Hamas ist er ein Ableger der in Ägypten entstandenen Muslimbruderschaft und propagiert ebenfalls die Zerstörung Israels als eigenständiger Staat und die "Befreiung" ganz Palästinas. Die Oslo-Abkommen der neunziger Jahre sowie grundsätzlich jede politische Vereinbarung mit Israel lehnt die Organisation ab.      

Im Kampf gegen Israel kooperieren Hamas und Islamischer Dschihad miteinander. Anders als die deutlich größere Hamas hat der Islamische Dschihad jedoch keinen politischen Arm und gilt als noch extremistischer. Nach israelischen Angaben wird er auch stärker als die Hamas vom Iran unterstützt – unter anderem mit Waffen und Ausbildung. Nach Einschätzung der deutschen Sicherheitsbehörden hat der Palästinensische Islamische Dschihad nur wenige Hundert Mitglieder. Die Organisation reklamiert aber regelmäßig Selbstmordattentate für sich, die von freiwilligen Kämpfern verübt werden.

Wie ist das Verhältnis von Palästinensergruppen aus Gaza und dem Westjordanland?

Gegründet wurde der Palästinensische Islamische Dschihad Anfang der achtziger Jahre von palästinensischen Studenten im Gazastreifen. Wie die Hamas ist er ein Ableger der in Ägypten entstandenen Muslimbruderschaft und propagiert ebenfalls die Zerstörung Israels als eigenständiger Staat und die "Befreiung" ganz Palästinas. Die Oslo-Abkommen der neunziger Jahre sowie grundsätzlich jede politische Vereinbarung mit Israel lehnt die Organisation ab.      

Im Kampf gegen Israel kooperieren Hamas und Islamischer Dschihad miteinander. Anders als die deutlich größere Hamas hat der Islamische Dschihad jedoch keinen politischen Arm und gilt als noch extremistischer. Nach israelischen Angaben wird er auch stärker als die Hamas vom Iran unterstützt – unter anderem mit Waffen und Ausbildung. Nach Einschätzung der deutschen Sicherheitsbehörden hat der Palästinensische Islamische Dschihad nur wenige Hundert Mitglieder. Die Organisation reklamiert aber regelmäßig Selbstmordattentate für sich, die von freiwilligen Kämpfern verübt werden.

 

Wie ist das Verhältnis von Palästinensergruppen aus Gaza und dem Westjordanland?

Die Palästinensische Autonomiebehörde wurde 1994 nach der Unterzeichnung des sogenannten Gaza-Jericho-Abkommens zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Israel gegründet. Heute wird sie nur noch als Palästinensische Behörde beziehungsweise PA bezeichnet. Die stärkste Fraktion innerhalb der PLO ist die Fatah-Bewegung, die unter Abbas als Präsident auch die PA in Ramallah dominiert.         

Seit 2006 stehen Fatah und Hamas im Konflikt miteinander. Der politische Flügel der Hamas gewann damals die Wahlen zum palästinensischen Legislativrat, dem Parlament, was zu einem westlichen Boykott der neuen Palästinenserregierung führte. Kurz darauf kam es zum palästinensischen Bürgerkrieg, den die Hamas im Gazastreifen und die Fatah im Westjordanland für sich entschieden. Seither sind die palästinensischen Autonomiegebiete faktisch geteilt.

Der Palästinensische Islamische Dschihad hat alle palästinensischen Wahlen seit 1994 boykottiert. Seit 2006 hat es in den Palästinensergebieten keine Parlamentswahlen mehr gegeben. Eine für Mai 2021 geplante Abstimmung verschob Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – ohne Angabe eines neuen Termins – unter Verweis auf einen Streit mit Israel. Beobachter halten diesen Grund jedoch für vorgeschoben und gehen davon aus, dass der Fatah-Parteichef so einen Machtverlust vermeiden will.

Während die Fatah seit dem Tod ihres Gründers Jassir Arafat im Westjordanland erheblich an Popularität verloren hat, nimmt der Zuspruch zu militanten Gruppen im Westjordanland zu. Insbesondere der Islamische Dschihad konnte in den vergangenen Jahren auch in Flüchtlingscamps, etwa in Dschenin und Nablus, Anhänger gewinnen. Dort eskaliert die Gewalt zwischen der israelischen Armee und Palästinensern regelmäßig. 

Wie realistisch ist eine Entschärfung des Konflikts mit Israel?

Die Lage in Israel ist aktuell unberechenbar und außer Kontrolle. Vor dem Angriff sahen Expertinnen und Experten einen wachsenden Druck auf Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, im Konflikt mit militanten Palästinensern Härte zu demonstrieren. Netanjahus Likud-Partei ist im Süden Israels stark verwurzelt – also jener israelischen Region, die von Raketenangriffen aus dem Gazastreifen am stärksten betroffen ist. Verschärft wird der Konflikt auch durch die israelischen Siedlungsaktivitäten im Westjordanland. Mehrere Minister in Netanjahus Regierung lehnen eine Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern offen ab. 

Aber auch in der israelischen und palästinensischen Bevölkerung hat die Unterstützung für eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung in den vergangenen Jahren abgenommen. In einer Umfrage des Israel Democracy Institutes von 2022 sprachen sich in Israel rund 31 Prozent der jüdischen Befragten und 60 Prozent der arabischen Befragten dafür aus, dass die Regierung die Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern vorantreiben solle. Eine Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research in den Palästinensergebieten im Vorjahr ergab 39 Prozent Zustimmung und 58 Prozent Ablehnung zu einer nicht näher definierten Zwei-Staaten-Lösung.