Pro-Asyl-Expertin Judith: „Strafver­fahren verkommen in der Türkei zur Farce“

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Im DTJ-Interview äußert die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, Wiebke Judith, scharfe Kritik an der türkischen Justiz und dem Umgang der deutschen Politik. Ein neues Gutachten von Pro Asyl zeigt, wie die Regierung systematisch Einfluss auf Richter und Staatsanwälte ausübt – und politische Strafverfahren zur „Farce“ werden lässt.

In welchem Ausmaß kann die türkische Justiz heute noch als unabhängig betrachtet werden? Welche konkreten Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, um Einfluss auf Richter und Staatsanwälte auszuüben?

Das von Pro Asyl in Auftrag gegebene Gutachten „Zur Lage der Justiz in der Türkei. Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug“ zeigt, dass zahlreiche Eingriffe der Regierung in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass die Unabhängig­keit und Unparteilichkeit des Gerichtswesens ausgehöhlt wurden. So werden zum Beispiel gezielt regierungstreue Kandidat*innen in zentrale Ämter berufen, um sicherzustellen, dass Ermittlungen und Urteile in politischen Verfahren im Sinne der Regierung er­folgen. Richter*innen, die unliebsame Urteile fällen, werden durch Versetzungen abgestraft, ihre Urteile entfalten kaum Präzedenzkraft.

Das hat Konsequenzen: Politische Strafver­fahren in der Türkei sind zu einer Farce verkommen. Die von uns beauftragten Gutachter*innen haben auch mit Anwält*innen in der Türkei gesprochen und dabei festgestellt, dass deren Ver­trauen in die Justiz erschüttert ist. Eine wirksame Verteidigung ihrer Mandant*innen ist bei bestimmten Vorwürfen nicht mehr möglich. Stattdessen geraten Anwält*innen immer häufiger selbst in den Fokus der Strafbehörden.

Wie gravierend ist der politische Einfluss auf die Strafverfolgung in der Türkei? Insbesondere bei Verfahren mit Terrorismusvorwürfen: Ist die Unabhängigkeit der Justiz in diesen Fällen vollständig aufgehoben?

Strafverfahren wegen terrorismusbezogener Tatbestände wie „Propaganda“, „Mitgliedschaft“ oder „Unterstützung“ sind besonders problematisch. Mit solchen Vorwürfen sehen sich oft Menschen konfrontiert, die zur „Kurd*innenfrage“, Korruption oder Menschenrechts­verletzungen arbeiten. Brisant ist etwa, dass die Kriterien für die Feststellung der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sehr vage sind. Zudem besteht die Möglich­keit, als Mitglied einer terroristischen Organisation verur­teilt zu werden, ohne dass diese vagen Kriterien überhaupt geprüft werden.

„Die Behörden sehen, was sie sehen wollen“

Lässt sich von einer systematischen Kriminalisierung politischer Gegner sprechen? Welche Bevölkerungsgruppen sind am stärksten von politisch motivierten Strafverfahren betroffen, und wie funktioniert dieser Mechanismus?

Änderungen der Strafprozessordnung sowie eine Reihe von Verordnungen mit Gesetzeskraft haben die Prinzipien der Fairness und der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung weiter ausgehöhlt. So werden etwa terrorismus­bezogene Verfahren regelmäßig als „geheim“ eingestuft, womit die angeklagte Person keine Möglichkeit auf eine angemessene Vorbereitung hat. Selbst das Recht auf einen Rechtsbeistand und vertrauliche Kommunikation mit der Anwältin oder dem Anwalt wird häufig stark eingeschränkt.

 

Und damit nicht genug: Von der Beschränkung der verbalen Verteidigung bis hin zum Ausschluss der Verteidigung aus dem Gerichtssaal – auch praktisch werden die Verteidigungsmöglichkeiten beschnitten. Die Ermittlungen in den besprochenen Verfahren sind einseitig. Die Behörden sehen, was sie sehen wollen.

Inwiefern? Können Sie das weiter erläutern?

In politischen Verfahren stellt die Staatsanwaltschaft häufig keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der vorgeworfenen Handlung und der zur Last gelegten Tat her, ein hinreichender Tatverdacht wird nicht begründet. Zur Verurteilung kommt es dennoch.

Ein weiterer zentraler Pfeiler sind Aussagen – zum Teil geheimer – Zeug*innen. Sie bleiben oft abstrakt und lassen keine Verbindung zwischen der beschuldigten Person und den ihr zur Last gelegten Ereignissen oder Taten erkennen. Auch ist es für die Verteidigung nicht möglich, die Zeug*innen zu befragen und ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen.

Immer weniger Schutzsuchende erhalten Asyl in Deutschland

Das hat nichts mit rechtsstaatlichen Strafverfahren zu tun und zeigt, dass diese Vorwürfe genutzt werden, um die politische Opposition zu verfolgen. Außerdem sind die Ermittlungen selbst schon zum Mittel der Bestrafung geworden: Sie werden schnell eingeleitet, Untersuchungshaft und Ausreiseverbote werden häufig verhängt. Diese Maßnahmen schweben als Damokles­schwert über ganzen Bevölkerungsgruppen.

Inwiefern beeinflusst die Wahrnehmung der Menschenrechtssituation in der Türkei die Entscheidungspraxis der Asylbehörden in Deutschland und anderen EU-Staaten? Welche spezifischen Missstände werden in den Asylverfahren möglicherweise nicht ausreichend gewürdigt?

Viele Menschen aus der Türkei fliehen nach Deutschland, um hier Schutz zu suchen. Im letzten Jahr ran­gierte die Türkei mit 61.181 Erstanträgen auf dem trau­rigen zweiten Platz der Hauptherkunftsländer von Asyl­antragsstellenden in Deutschland. Bis Juni 2024 wurden knapp 16.000 Erstanträge von Antragsstellenden aus der Türkei registriert.

 

Doch obwohl die desolate Menschenrechtslage und der Abbau rechtsstaatlicher Standards in der Türkei umfänglich dokumentiert sind, erhalten immer weniger Personen aus der Türkei Schutz in Deutschland. Die bereinigte Schutz­quote sinkt seit 2019 kontinuierlich und lag im Juni 2024 bei nur noch 13 Prozent.

Wie kann die systematische Verfolgung von kurdischen Asylsuchenden als Teil einer größeren Strategie zur Unterdrückung ethnischer Minderheiten in der Türkei verstanden werden? Inwieweit wird dies in den Asylverfahren berücksichtigt?

Obwohl die schwierige Situation von Kurd*innen in der Türkei durchaus bekannt ist, ist ihre Situation im deutschen Asylverfahren besonders dramatisch: Mit über 80 Prozent der Erstanträge machten Angehörige der Minderheit 2023 den größten Teil türkischer Asylanträge aus. Gleichzeitig sind sie besonders von einer restriktiven Entscheidungspraxis im Asylverfahren betroffen. 2023 erhielten lediglich 6 von 100 Kurd*innen aus der Türkei Schutz in Deutschland durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Bei Angehörigen der türkischen Bevölkerungsgruppe waren es knapp 65 von 100. Das BAMF erkennt keine Gruppenverfolgung von Kurd*innen in der Türkei an. Es wird also in jedem Fall individuell geprüft, ob eine Verfolgung aufgrund zum Beispiel politischer Tätigkeiten vorliegt. Dabei ist es für kurdische Antragsteller*innen besonders schwierig, das BAMF von ihrer Gefährdung zu überzeugen – das berichten uns regelmäßig Anwält*innen, die Asylsuchende vertreten.

„Falsche Grundannahmen bei der Rechtsstaatlichkeit“

Welche konkreten Beweise oder Indizien fehlen häufig in den Asylverfahren, um die verfolgungsspezifischen Risiken für türkische und kurdische Asylsuchende adäquat zu bewerten? Wie könnten diese Lücken geschlossen werden?

Ein zentrales Problem in den Asylverfahren ist aus Sicht von Pro Asyl, dass deut­sche Behörden an der Annahme festhalten, dass die Türkei auch in politisch motivierten Strafverfahren rechtsstaatlichen Kriterien folgt. So wird etwa die Verfolgung von kurdischen Oppositionellen unter dem Deckmantel des „Terrorismus“ in Deutschland immer wieder als ‚legitim‘ bewertet – und die betroffenen Kurd*innen bekommen keinen Schutz. „Die Türkei ist keineswegs ein rechtsfreier Raum“, hält das BAMF in einem Bescheid fest, der Pro Asyl vorliegt.

Grundsätzlich sei es nicht Aufgabe des Bundesamtes, türkische Gerichtsurteile auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, heißt es in einem anderen Be­scheid. Die von Pro Asyl gesichteten Verfahrensunterlagen bestätigen, dass in deutschen Asylbescheiden die Schlussfolgerungen der türkischen Justiz häufig unkritisch übernommen werden. Das war für uns auch der Grund, warum wir das Gutachten zur Lage der Justiz in der Türkei in Auftrag gegeben haben. Als Herkunftslandinformation muss das BAMF diese neuen Erkenntnisse berücksichtigen und aus unserer Sicht seine Entscheidungspraxis ändern. Es ist aber auch eine wichtige Quelle für Anwält*innen und Richter*innen in Deutschland. Schon jetzt werden falsche Ablehnungen von in der Türkei Verfolgten häufig vor Gericht korrigiert.

Welche Rolle spielen internationale Organisationen und Menschenrechtsgruppen bei der Aufdeckung der repressiven Maßnahmen in der Türkei? Wie wirken sich deren Berichte und Stellungnahmen auf die Asylpraxis und das öffentliche Bewusstsein in den Aufnahmeländern aus?

Die entsprechenden Terrorismus-Gesetze werden schon lange beispielsweise durch die Menschenrechtskommission des Europarats kritisiert. Türkische Höchstgerichte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben wichtige Urteile zum Schutz individueller Freiheitsrechte gefällt – geändert hat das in der Türkei bislang wenig, wie das neue Gutachten zeigt. Berichte von internationalen NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch geben wichtige Einblicke in die schwierige Menschenrechtslage in dem Land.

 

Sie finden auch immer wieder Beachtung in Asylentscheidungen, doch bestimmte falsche Grundannahmen bei der angeblichen Rechtsstaatlichkeit von politisch motivierten Strafverfahren in der Türkei halten sich trotzdem hartnäckig. Wir hoffen, dass das neue Gutachten solche Mythen nun eindeutig widerlegt.

„Faire Asylverfahren in Haftlagern nicht möglich“

Inwiefern könnten Reformen im deutschen Asylrecht dazu beitragen, die Anerkennung der verfolgungsspezifischen Risiken für türkische und kurdische Asylsuchende zu verbessern? Welche politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen wären notwendig, um eine gerechtere Asylpraxis zu fördern?

Die Zeichen in Europa und in Deutschland stehen aktuell leider immer mehr auf Abschottung. Anstatt sich auf die Werte von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu besinnen, wurden neue Gesetzesverschärfungen im europäischen Asylsystem beschlossen. Und die könnten auch für türkische Schutzsuchende dramatisch werden: Wenn ihre europaweite Schutzquote weiterhin so niedrig bleibt, dann müssen sie zukünftig an den europäischen Außengrenzen in de facto Haftlagern ihr Asylverfahren durchlaufen. Mit solchen Zentren gibt es schon lange Erfahrungen zum Beispiel in Griechenland und diese haben gezeigt: Faire Asylverfahren sind dort nicht möglich. Als Aufnahmegesellschaft müssen wir uns auch in Deutschland fragen: Was macht es mit uns, wenn wir unsere Grenzen und Herzen vor fliehenden Menschen schließen?

Letzte Frage: Was fordern Sie als Pro Asyl konkret?

Pro Asyl setzt sich dafür ein, dass fliehende Menschen weiterhin Schutz in Europa und Deutschland bekommen. Hierfür braucht es dringend ein Umdenken in der Politik, damit grundlegende Menschenrechte von schutzsuchenden Menschen wieder geachtet werden. Es braucht mehr sichere Zugangswege und für alle hier schutzsuchenden Menschen faire Asylverfahren. Nur so kann sichergestellt werden, dass niemand in ein Land geschickt wird, in dem ihm/ihr schwere Verfolgung, Folter oder willkürliche Haftstrafen drohen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Wiebke Judith ist Rechtspolitische Sprecherin und leitet das Team Recht & Advocacy bei Pro Asyl.

Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder.