Ein neuer Migrationsdeal mit der Türkei

                          Artikel von Mona Jaeger/Faz
                                                            
 
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                                                             Treffen mit Folgen: Scholz und Erdoğan am Montag in New York © dpa

 

Abschiebungen in die Türkei sind heikel. Das Land ist von großer geopolitischer Bedeutung für Deutschland und NATO-Partner. Gleichwohl sind inzwischen 13.500 Türken in Deutschland ausreisepflichtig. Die Zahl der türkischen Asylbewerber war im vergangenen Jahr dermaßen angestiegen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Thema an sich zog. „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – das hatte sich der Kanzler im Oktober 2023 selbst aufgetragen. Beim Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan kurze Zeit später im November gelang offenbar ein Durchbruch. Seither zeige sich die Türkei sehr kooperativ, heißt es in Berlin gegenüber der F.A.Z.

Nun gibt es erste greifbare Ergebnisse: Die Bundesregierung hat nach monatelangen Verhandlungen mit der Regierung in Ankara damit begonnen, eine große Zahl von türkischen Staatsbürgern in ihr Heimatland abzuschieben. Nach Informationen der F.A.Z. sollten vorerst insgesamt 200 Türken in mehreren Linienflügen in die Türkei gebracht werden. Und dies soll erst der Anfang einer Offensive zur Abschiebung von Türken sein, wie die F.A.Z. aus Regierungskreisen erfuhr.

Demnach hat die Türkei wohl ange­boten, bis zu 500 Staatsbürger je Woche aus Deutschland zurückzunehmen. Entsprechende Vorbereitungen laufen. Zwar lehnt die Türkei weiter ab, dass Abschiebungen per Charterflug stattfinden. Allerdings scheint sie bereit zu sein, künftig solche Flüge zu akzeptieren, wenn sie „Spezialflug“ heißen.

Im vergangenen Jahr war die Zahl türkischer Asylbewerber sprunghaft angestiegen, im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 150 Prozent. Die Türkei stieg in Deutschland auf Platz zwei der Herkunftsländer hinter Syrien auf. In diesem Jahr sind die Zahlen mittlerweile rückläufig, die Türkei nimmt nun Platz drei hinter Afghanistan ein. Ein wichtiger Grund für die Migration war die schlechte wirtschaftliche Lage in der Türkei mit einer offiziellen Inflation von mehr als 80 Prozent. Das schlug sich in einer niedrigen Schutzquote nieder. Nur 13 Prozent der Asylanträge wurden positiv beschieden. Damit ist die Schutzquote für Türken deutlich geringer als für Syrer oder Afghanen.

Besonders stark stieg die Zahl der Anträge 2023 in der zweiten Jahreshälfte, was mit der Wiederwahl von Präsident Erdoğan zu tun hatte, die unter Anhängern der Opposition ein Gefühl von Per­spektivlosigkeit bewirkte. Neben der gleichbleibend hohen staatlichen Repression war auch das verheerende Erdbeben im Februar ein wichtiger Grund für die Migration. Mehr als 10.000 Kurzzeitvisa wurden an Erdbebenüberlebende ausgegeben, von denen manche in Deutschland anschließend Asyl beantragten. In anderen Fällen wurde die Migration in die EU dadurch erleichtert, dass Türken für Serbien kein Visum brauchen und deshalb nur eine Grenze, meist die ungarische,überwinden mussten.

Die Zunahme der Asylbewerber aus der Türkei ist vor allem ein kurdisches Phänomen. Im vergangenen Jahr gaben 84 Prozent der Antragsteller an, Kurden zu sein. In den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei sind Armut, politische Repression und die Entfremdung vom türkischen Staat besonders groß.

Wegen der niedrigen Schutzquote stieg auch die Zahl der ausreisepflichtigen Türken rasch an. Ende 2023 galt das für mehr als 13.500 Türken. Im selben Jahr wurden dagegen nur 871 türkische Staatsbürger abgeschoben, ausschließlich mit Linienflügen. Mehr als 10.000 der Ausreisepflichtigen hatten eine Duldung. Bei ei­nem Viertel lag das an fehlenden Reisedokumenten, was wohl einiges über die bisherige Kooperationsbereitschaft der türkischen Konsulate aussagt.

Genau das soll sich jetzt geändert haben. Deutschland hatte vor einiger Zeit der Türkei eine Liste übersandt mit 200 Namen von ausreisepflichtigen Staats­bürgern. Die Türkei gab schnell ei­ne positive Rückmeldung: Ja, wir nehmen diese Leute zurück. Danach wurde diese Liste von den deutschen Ausländerbehörden in Zusammenarbeit mit den türkischen Generalkonsulaten abgearbeitet. Beide Stellen müssen zusammenarbeiten, wenn etwa Pässe abgelaufen sind und neue beschafft werden müssen. Das war bisher immer ein kniffliger Punkt. Wenn ein Herkunftsland will, kann es an dieser Stelle Abschiebungen deutlich verzögern. Anders die Türkei: Sie sicherte den deutschen Stellen nun zu, dass die Zusammenarbeit mit den Generalkonsulaten „völlig problemlos“ laufen werde, heißt es in Berlin. Auch soll die Arbeit der türkischen Stellen vereinheitlicht werden, um die Mitarbeit bei Abschiebungen zu erleichtern. Ein neues Abkommen oder ein Vertrag müssen für die Abschiebungen nicht geschlossen werden.

Eine Einigung zeichnet sich auch bei einem anderen schwierigen Punkt ab: den Abschiebeflügen. Größere Gruppen von Personen lassen sich dauerhaft eigentlich nur per Charterflug außer Landes bringen. Bisher hatte sich die Türkei geweigert, solche Charterflüge zuzulassen, weil sie einen Imageschaden fürchtete. Das Land will nicht in einem Atemzug mit anderen Herkunftsländern wie Syrien und Afghanistan genannt werden. In der Türkei sieht man sich nicht als Herkunftsland, sondern als unfreiwilliges Transit- und Zielland globaler Migration. Wegen dieser

Befindlichkeiten waren Abschiebungen bisher nur in Linienflügen möglich, was die Zahl der Abschiebungen beschränkte.

Schaden am Selbstbild als aufsteigende Regionalmacht

Offiziell argumentierte die türkische Regierung gegenüber der Bundesregierung, dass sie bei großen Gruppen in Charterflugzeugen befürchte, dass womöglich keine individuelle Prüfung des Asylantrags stattgefunden habe. Dem hat Deutschland widersprochen, denn das Asylrecht wird immer geprüft, egal ob eine oder 500 Personen abgeschoben werden. Gleichzeitig will sich auch Deutschland kooperativ zeigen. Die Lösung könnte ganz einfach sein: Die Türkei hat sich offenbar bereit erklärt, künftig Charterflüge zu akzeptieren, wenn sie offiziell „Spezialflüge“ genannt werden.

Anders als bei anderen Herkunftsländern spielen Geldtransfers von Asylbewerbern aus Deutschland an Angehörige in der Heimat kaum eine Rolle. Viele türkische Familien haben ohnehin Verwandte in Deutschland. Auch Fachkräfteabkommen, wie sie mit anderen Ländern geschlossen wurden, sind für die Türkei nicht attraktiv. Die Verbindungen zu Deutschland sind so eng, dass türkische Ärzte, Pfleger und IT-Fachkräfte von sich aus den Weg nach Deutschland finden, ohne dass das im Interesse der Türkei wäre.

Schwerer wiegt für Ankara der Schaden am Selbstbild als aufsteigende Regionalmacht, deren Attraktivität durch die Asylbewerber infrage gestellt wird. In­sofern ist es ein Zugeständnis an die Türkei, dass offiziell nicht von einem Charterflug, sondern von einem „Spezialflug“ die Rede ist. Möglich ist das auch deshalb, weil die türkische Regierung Zugriff auf die teilstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines hat. Von türkischer Seite hieß es gegenüber der Bundesregierung offenbar, wenn dieses Modell laufe, seien bis zu 500 Abschiebungen pro Woche möglich.

Zahl der vergebenen Visa hat sich mehr als verdoppelt

Was bekommt die Türkei dafür, dass sie sich so kooperativ zeigt? Offiziell erstaunlich wenig. Die Türken haben im Gespräch mit deutschen Stellen deutlich gemacht, dass ihr Fernziel die Visafreiheit für Deutschland ist. Kurzfristig hat Deutschland nur zugesagt, dass daran gearbeitet werde, Visaanträge schneller zu bearbeiten. Darüber hat das Bundes­innenministerium auch schon mit dem Auswärtigen Amt gesprochen.

Die langen Wartezeiten und vielen Ablehnungen sind ein Dauerthema in der türkischen Bevölkerung. Im Internet kursieren Beispiele von Geschäftsleuten, die ihren Messeauftritt versäumt haben, und von Studenten, die ihren Studienbeginn verpasst haben, Bürger, die nicht an der Hochzeit ihrer in Deutschland lebenden Cousins teilnehmen konnten. Ein Grund für die langen Wartezeiten ist das gestiegene Interesse an Reisen nach Deutschland. Zwischen 2021 und 2022 hat sich die Zahl der vergebenen Visa mehr als verdoppelt.

Zum Frust der Türken trägt bei, dass die EU dem Land 2016 im Rahmen des Flüchtlingsdeals Visafreiheit unter Bedingungen zugesichert hatte. Einen Teil der damals aufgestellten 72 Kriterien hat die Türkei allerdings bis heute nicht erfüllt, darunter Reformen der Terrorgesetzgebung und des Datenschutzes. Solange die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei hoch ist, ist aber fraglich, ob dem Land Visafreiheit gewährt würde, selbst wenn es die Bedingungen erfüllte. Die jetzt in Aussicht gestellten schnelleren Verfahren sind wiederum kein richtiges Zugeständnis. Denn es liegt auch in deutschem Interesse, dass berechtigte Personen ein Visum bekommen.

Mit Drohungen kommt man nicht weit

Doch warum ist die Türkei jetzt zu Abschiebungen bereit, da sie sich doch so lange geweigert hat? Im November vergangenen Jahres war Erdoğan in Berlin. Im Kanzleramt gab es ein zweistündiges Abendessen mit Scholz. Dabei sprach der Kanzler das Thema Abschiebungen an. Danach hieß es aus Regierungskreisen, Scholz habe gefordert, dass es für Abschiebungen in die Türkei „einen belastbaren Mechanismus“ geben müsse. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe solle dazu bald Ergebnisse vorlegen.

Was technokratisch klingt, war offenbar schon eine sehr konkrete Verein­barung zwischen den beiden Regierungschefs. Im System Erdoğan zählt vor allem, dass der Präsident selbst den Prozess unterstützt. Wenn es auf der obersten Ebene eine Einigung gebe, sei mit der Türkei vieles möglich, so die Erfahrung in Berlin. Außerdem dürfe man bei der Türkei nicht zu institutionell denken. Sondern man müsse Leute kennen, Vertrauen aufbauen, beharrlich bleiben. Mit Drohungen komme man nicht weit.

Trotzdem hat es von November bis jetzt gedauert, weil die Ansprechpartner in der Türkei, die sich um die praktischen Fragen kümmerten, immer wieder wechselten und zunächst keine Freigabe von höherer Stelle bekamen. Wobei es den Prozess erleichtert haben könnte, dass der türkische Amtskollege von Bundes­innenministerin Nancy Faeser (SPD), Ali Yerlikaya, ein Pragmatiker ist, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Süleyman Soylu. Der Wechsel im vergangenen Jahr schlägt sich auch in einer größeren Kooperationsbereitschaft bei der Bekämpfung von Drogen- und Schleuserkriminalität nieder. Soylu wurde dagegen eher als Teil des Problems als der Lösung betrachtet.

Schon im Mai hatte Erdoğans außenpolitischer Berater Akif Cağatay Kılıç in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ gesagt: „Wenn türkische Staatsbürger sich ohne Erlaubnis in einem anderen Land aufhalten, sind sie zur Rückkehr in die Türkei verpflichtet.“ Die Herausforderung liege darin, „eine Zusammenarbeit ins Rollen zu bringen, die bisher nicht bestand“.