Migrationsforscher: „Es ist sinnvoll, aussichtslose Asylanträge zu entmutigen“

                                                   Artikel von Michael Martens/FAZ
                                     jhuztfr.jpg
                  Ein Boot mit Flüchtlingen nähert sich am 11. August im Mittelmeer südlich der Insel Lampedusa dem Rettungsschiff
                 „Astral“ der Hilfsorganisation Open Arms. © Reuters

 

Herr Knaus, die Bundesregierung entfaltet in jüngster Zeit einen hektischen Aktivismus, um die vor Jahren außer Kon­trolle geratene illegale Einwanderung nach Deutschland einzudämmen. Nun sollen verschärfte Grenzkontrollen die Lösung sein. Was genau meinen Sie, wenn Sie vor Scheinlösungen warnen, die nur Enttäuschungen produzieren?

Das Ziel, irreguläre Migration zu stoppen, ist legitim. Die entscheidenden Fragen sind: Wo und wie? Sowohl die Regierung als auch die Opposition von CDU/CSU begehen einen strategischen Fehler, wenn sie versprechen, dieses Ziel an den deutschen Grenzen erreichen zu können. Zur Wirkung von Binnengrenzkontrollen wissen wir seit 2015 viel. Österreich hat sie seit Herbst 2015, Frankreich auch. In beiden Ländern sind die Asylantragszahlen seither stark gestiegen. Das EU-Recht erlaubt es an der Grenze aufgegriffenen Personen, einen Asylantrag zu stellen. Österreich hatte 2022 fast 110.000 Asylanträge. Das waren mehr als 2015 und gemessen an der Bevölkerungszahl auch viel mehr als Deutschland – nach sieben Jahren Grenzkontrollen.

CDU-Chef Merz sagt aber, er wolle nicht nur Kontrollen, sondern auch sofortige Zurückweisungen an der Grenze. Sie warnen, der gewünschte „Dominoeffekt“ werde sich nicht einstellen. Warum nicht?

Diese Idee ist nicht neu. Als es aus Bayern und vom damaligen Innenminister Horst Seehofer 2018 einen ähnlichen Vorschlag für Zurückweisungen an den deutschen Grenzen gab, hat Angela Merkel dem sogar zugestimmt – unter einer Bedingung: Seehofer sollte seine Parteifreunde in Wien, wie den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz, davon überzeugen, diese Zurückweisungen zu akzeptieren. Wiens Reaktion darauf war 2018 dieselbe wie nun 2024: Österreich, das pro Kopf seit 2014 sogar noch mehr Schutz vergab als Deutschland, war nicht bereit, Zurückweisungen entgegen der geltenden Dublin-Regeln zu akzeptieren. Wie aber sollen Zurückweisungen nachhaltig sein, wenn die Nachbarländer sie ablehnen – solange man nicht auch Grenzzäune und Mauern baut? Ist Deutschland jetzt bereit dazu, die Schengen-Zone für immer abzuschaffen? Und wie sollen Zurückweisungen an der grünen Grenze funktionieren, die Tausende Kilometer lang ist? Sollen da alle zwanzig Meter Grenzpolizisten stehen? Wer an einer Stelle abgewiesen wird, probiert es an einer anderen nochmals. Das sehen wir seit 2016 in Südosteuropa auf der sogenannten Balkanroute, die angeblich schon vor Jahren geschlossen wurde.

Den Gegenvorschlag der Ampel, Flüchtlinge nahe der deutschen Grenze festzuhalten, bezeichnen Sie ebenfalls als untauglich. Warum?

Das wäre eine Art Turbo-Dublin im Kleinen. Werden Bayern oder Sachsen dann lauter Aufnahmezentren bauen? Wieso sollte das, was seit Jahren schon mit Italien und Griechenland scheitert, dann auf einmal funktionieren? Deutschland beantragte 2023 in 20.000 Dublin-Fällen, dass ein Asylverfahren in Italien und Griechenland stattfinden sollte. Es gelangen aber nur 14 Überstellungen. Die Frustration darüber ist nachvollziehbar. Deutschland und Österreich machen gemeinsam etwa 20 Prozent der EU-Bevölkerung aus, trafen seit 2014 aber mehr als die Hälfte aller positiven Asylentscheidungen in der EU. Würde das Dublin-System funktionieren, wäre das unmöglich. Derweil ist der bürokratische Aufwand enorm. Deutschland beantragte 2023 etwa 75.000-mal, eine Person in ein anderes EU-Land zu überstellen. Nur 5000-mal kam es tatsächlich dazu. Gleichzeitig übernahm Deutschland selbst 4300 Dublin-Fälle aus anderen Ländern. Am Ende von Zehntausenden bearbeiteten Akten hatte Deutschland im vergangenen Jahr also 700 Asylanträge im Jahr weniger. Bei insgesamt 350.000 Asylanträgen. Das Dublin-System erinnert an Sisyphus und seinen Felsblock.

Reden wir also über Lösungen. Sie haben sich in der Migrationsforschung unbeliebt gemacht, da Sie die Verlagerung europäischer Asylverfahren in afrikanische Staaten befürworten. Als Vorbild nennen Sie die überarbeitete Asylpartnerschaft zwischen Großbritannien und Ruanda vom Dezember 2023. Doch die ist gescheitert. Wie kann das also eine Lösung sein?

Man kann aus der gescheiterten britischen Kooperation mit Ruanda viel lernen. Gescheitert ist sie zwei Gründen: Erstens wurde sie von den Tories dilettantisch betrieben. Die britische Regierung hatte vor Klärung der Frage, wie glaubwürdige Asylverfahren in Ruanda sichergestellt werden können, schon einen Stichtag festgelegt, ab dem sie alle danach ankommenden Asylbewerber überstellen wollte. Wie zu erwarten war, sind die Gerichte in London dagegen eingeschritten. Erst danach, um berechtigte Einwände der Gerichte zu klären, hat die Regierung Ende 2023 einen neuen Vertrag mit Ruanda geschlossen. Darin verpflichtete sich Ruanda, dass es keine Abschiebungen jener geben würde, die aus Großbritannien in das Land gebracht würden, selbst bei einem negativen Asylbescheid. Auch abgelehnte Asylbewerber hätten also in Ruanda bleiben können. Dazu wurde das nationale Asylverfahren verbessert. Es wurden auch internationale Richter eingeladen, sich daran zu beteiligen. Ein anerkannter englischer Richter hätte Ko-Vorsitzender der ruandischen Asyl-Berufungskammer werden sollen.

Hätte?

Ja, weil die Tories im Sommer abgewählt wurden und die jetzige Regierung aus politischen Gründen gegen das Projekt ist und die Kooperation mit Ruanda ausgesetzt hat. Nun wissen wir aber: Seriöse Asylverfahren in Ruanda sind möglich. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bringt seit 2019 Tausende Asylsuchende aus Libyen für Asylverfahren nach Ruanda. Ruanda ist dafür sicher, sonst könnte das UNHCR das nicht tun. Die Menschen, denen Asyl zuerkannt wird, können entweder in Ruanda bleiben oder sich für ein Umsiedlungsprogramm bewerben, vor allem in die USA oder nach Kanada. Es geht also.

Was hindert die Bundesregierung dann daran, aus den Fehlern Londons zu lernen und ein rechtssicheres Abkommen mit Ruanda oder anderen Drittstaaten anzustreben, um Asylverfahren dorthin auszulagern?

Derzeit das EU-Recht. Außerdem braucht es auch eine klare Strategie bezüglich der Angebote an mögliche Partnerländer. Ich höre manchmal, Abkommen mit Drittstaaten seien keine „magische Lösung“. Das stimmt. Aber ein Rückgang der irregulären Migration und der Zahl der Toten im Mittelmeer binnen Wochen auf nur drei Prozent der früheren Zahlen, wie er durch die EU-Türkei-Erklärung im Jahr 2016 in der Ägäis erreicht wurde, ist eine große politische Anstrengung allemal wert und würde viele Leben retten. Wenn man einem afrikanischen Partnerland im Gegenzug für seine Kooperation die geordnete Aufnahme von Flüchtlingen durch Kontingente, erleichterte Mobilität für die eigenen Bürger und Entwicklungshilfe zur Bekämpfung der extremen Armut anbieten würde, würde die AfD zwar sicher auch dagegen protestieren – aber Parteien der Mitte und alle, denen etwas an human kontrollierten Außengrenzen ohne Tausende Tote jedes Jahr liegt, sollten das unterstützen.

Abgesehen vom rassistischen Einwand, ein afrikanischer Staat könne per se keine ausreichenden Standards bieten, führen Gegner der Ruanda-Idee an, es sei illusorisch, Hunderttausende Menschen in das Land zu bringen. Sie sagen, darum gehe es auch nicht. Aufgrund der Signalwirkung einer Stichtagsregelung würde sehr bald kaum noch jemand kommen, wenn klar ist, dass die Reise nach Europa in Ruanda endet. Was macht Sie da so sicher?

Ruanda wäre nie bereit gewesen, für Hunderttausende Menschen Asylverfahren durchzuführen. Auch die Türkei war dazu im Rahmen ihrer Vereinbarung mit der EU 2016 nicht bereit. Es geht darum, dass man die irreguläre Migration in die EU mithilfe einer Stichtagsregelung systematisch entmutigt. Zwischen der EU und der Türkei wurde 2016 ein Stichtag vereinbart, nach dem alle, die danach noch auf den griechischen Inseln ankamen, damit rechnen mussten, wieder in die Türkei zurückgebracht zu werden. Das bewirkte einen sofortigen drastischen Rückgang der Migration. Entscheidend war, dass die Botschaft geglaubt wurde. Dafür bieten die Partnerländer an, Asylverfahren nach den Standards des UNHCR auf ihrem Boden abzuhalten oder zuzulassen. So ließen sich die irreguläre Migration und das Sterben auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln ebenso wie im zentralen Mittelmeer schnell reduzieren. Und Tausende Leben retten. Damit die Partnerstaaten mitmachen, muss es aber Angebote geben, die in deren langfristigem Interesse sind. Man kann zum Beispiel legale Arbeitsmigration für junge Menschen anbieten, die sich in geregelten Verfahren dafür bewerben.

Wir müssen auch über Pull-Faktoren reden. Die niederländische Regierung will abgelehnten Asylbewerbern ab 2025 keine staatliche Unterstützung mehr zahlen. Wäre das auch ein Weg für Deutschland?

Ausreisepflichtige Personen, deren Antrag auf Asyl in letzter Instanz abgelehnt wurde und die ausreisen könnten, bekommen auch in Österreich keine Unterstützung mehr. Es gibt Ausnahmen für Fälle, wenn Menschen unverschuldet nicht ausreisen können, aber das sind nicht viele. In ganz Österreich gibt es derzeit weniger als 1100 Menschen, die eine endgültige negative Asylentscheidung haben, aber weiter eine Grundversorgung bekommen. Das ist ein Dach über dem Kopf, sieben Euro am Tag für Verpflegung und dazu 40 Euro im Monat. Alle anderen, die endgültig abgelehnt wurden, bekommen nichts mehr. Dazu kommen in der Schweiz wie in Österreich im Fall von fast aussichtslosen Asylanträgen sehr schnelle Verfahren. In Deutschland gab es 2024 schon wieder fast 11.000 Asylanträge aus den Westbalkanstaaten, Moldau und Georgien. Nur 21 dieser Anträge wurden positiv beschieden. In Österreich gab es aus diesen Ländern nur 225 Anträge bei 12 positiven Entscheidungen. In diesem Jahr könnten wieder 30.000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellen, die von Anfang an keine Chance auf Anerkennung haben. Es gab schon 1000 Anträge aus Vietnam – mit einer einzigen Anerkennung. 2500 Anträge aus Kolumbien, bei drei Anerkennungen. Indem man Anreize senkt, dass solche meist aussichtslosen Anträge überhaupt gestellt werden, könnte man Behörden und Gerichte schnell entlasten.

Mit anderen Worten: Deutschland sollte sich an dem niederländischen oder dem österreichischen Beispiel orientieren und abgelehnten Asylbewerbern keine staatliche Unterstützung mehr zahlen?

Es ist sinnvoll, aussichtslose Asylanträge effektiv zu entmutigen. Wer Schutz braucht, soll ihn bekommen – aber wer ihn nicht braucht, sollte möglichst keinen Anreiz dazu haben, Asylanträge zu stellen. Das sicherzustellen wäre auch keine „Verschärfung“, sondern ein Schutz des Rechts auf Asyl.

Also keine staatliche Unterstützung mehr für abgelehnte Asylbewerber. Sie kritisieren zudem, dass die Ampel auf europäischer Ebene eine mögliche Lösung blockiere, nämlich die von einer Mehrheit der EU-Staaten gewünschte Streichung des „Verbindungskriteriums“. Worum geht es?

Um die Schaffung der rechtlichen Voraussetzung dafür, dass die EU mit möglichen sicheren Drittstaaten über Rückführungen von Asylsuchenden verhandeln kann. Das eine ist das internationale Recht: Wer die EU erreicht, darf für Asylverfahren nur in Länder gebracht werden, in denen menschenrechtliche Standards erfüllt und faire Asylverfahren gewährleistet sind. Das Verbindungskriterium im geltenden EU-Recht schreibt aber zusätzlich dazu noch vor, dass die betreffende Person eine biographische Verbindung zu diesem sicheren Land haben muss. Das ist weder Teil der Flüchtlingskonvention noch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine große Mehrheit der EU-Staaten fordert schon lange eine Aufhebung des Verbindungskriteriums. Die CDU auch. Die Regierung lehnt das bisher entschieden ab. Warum? Es geht dabei eindeutig nicht um die Einschränkung der Menschenrechte.

Wie ließe sich das Verbindungskriterium denn abschaffen?

Die EU-Kommission müsste es vorschlagen. Dann liegt es an den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament. Im nächsten Sommer soll das ohnehin neu diskutiert werden – doch warum warten, während der Schengen-Raum vor unseren Augen zusammenbricht und weiter Jahr für Jahr Tausende im Mittelmeer ertrinken? Ampel und Opposition könnten der Kommission sofort Deutschlands Bereitschaft zur Streichung des Verbindungskriteriums signalisieren. Dann könnte man ernsthafte Verhandlungen für 2025 vorbereiten. Das Ziel muss es sein, die irreguläre Migration in die EU ähnlich effektiv zu reduzieren, wie dies mit der EU-Türkei-Erklärung im März 2016 anfangs gelang. Im Winter 2015/16 kamen in drei Monaten mehr als 150.000 Menschen in Booten aus der Türkei nach Griechenland. Im Sommer 2016 waren es dann in drei Monaten nur noch 5000, und im Winter 2017 in drei Monaten nur 4000. Ein Rückgang um 97 Prozent. Diese Einigung reduzierte die irreguläre Migration vier Jahre lang. Dann brach die EU-Türkei-Erklärung zusammen. Das Ergebnis davon sah man schnell. In Deutschland, Österreich und der Schweiz stieg die Zahl der Asylanträge allein von Syrern und Afghanen von 200.000 in den drei Jahren zwischen 2017 bis 2019 auf 450.000 in den Jahren von 2021 bis 2023. Trotz neuer Zäune, nationaler Grenzkontrollen und wachsender Gewalt an den Grenzen in Südosteuropa.

Insbesondere bei den Grünen gibt es aber, gelinde gesagt, gewisse Vorbehalte gegen die Idee, europäische Asylverfahren nach Afrika zu verlagern.

Abkommen mit sicheren Drittstaaten sind eine moralische Alternative zu Gewalt, Tod und Rechtlosigkeit an Europas Grenzen. Und zum derzeitigen Kontrollverlust. Um irreguläre Migration zu kontrollieren und das Sterben im Mittelmeer zu verringern, sind seriöse Asylverfahren in Drittstaaten legitim, auch wenn sie mit dem Ziel verbunden sind, zugleich irreguläre Migration zu reduzieren. Man muss sich dabei von dem Kampfbegriff der „Externalisierung“ verabschieden.

Sie warnen, wer jeden Versuch zur Eindämmung der illegalen Migration aus ideologischen Gründen ablehne, mache die Rechnung ohne Putin. Wie meinen Sie das?

Wenn putinfreundliche Parteien wie die AfD, die FPÖ oder Le Pens RN bei Wahlen in ganz Europa immer stärker werden, weil es Parteien der Mitte nicht schaffen, ihre Versprechen zur Begrenzung der irregulären Migration einzulösen, ist das für den Frieden existenzbedrohlich. Putin ist die größte Fluchtursache in Europa. Er hat den Krieg gegen die Ukraine entfesselt. Die Vertreibung von Millionen ist dabei ein explizites Ziel. Er schleust mit Belarus Zehntausende Migranten aus anderen Ländern an die europäischen Außengrenzen. Von seiner Rolle in Syrien seit 2015 nicht zu reden. Ein Scheitern der Versuche, irreguläre Migration mit rechtsstaatlichen Mitteln unter Kontrolle zu bekommen, ist für Putin und seine Verbündeten das größtmögliche Geschenk. Angesichts des Ernstes der Lage brauchen wir aber Vorschläge zur Reduzierung der Migration, die auch tatsächlich funktionieren können. Gefährlich wird es, wenn Parteien der Mitte Lösungen präsentieren, die die Erwartungen nicht erfüllen können. Für den Plan der Zurückweisungen an deutschen Grenzen etwa müsste eine Notlage ausgerufen werden. Es ist fast sicher, dass der Europäische Gerichtshof das nicht akzeptieren würde. Dann stünde fast der gesamte Bundestag gegen das höchste europäische Gericht. Das wäre ein idealer Nährboden für die Anti-EU-Kampagnen von AfD und BSW. Und am Ende gar für die von Putin erhoffte Debatte über ein Ausscheiden Deutschlands aus der EU.