Wie Migranten finanzielle Rückkehrhilfen in großem Stil missbrauchen

Geschichte von Carolina Drüten / Die Welt 

Statt Abschiebungen forciert die Bundesregierung freiwillige Ausreisen und bietet Rückkehrern dafür Anreize. Wie interne Dokumente zeigen, wird das ausgenutzt: Migranten reisen gezielt ein, um Fördergelder zu erhalten. Länder schlagen Alarm – vor allem eine Gruppe steht im Fokus.

 

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                                                                   Uwe Zucchi/dpa/picture alliance; Montage: Infografik WELT © Bereitgestellt von WELT

 

Abschiebungen sind teuer, mühsam und misslingen oft. Die Bundesregierung setzt deshalb auf die freiwillige Ausreise von Migranten – und fördert dies finanziell. Pro Person können mehrere Tausend Euro in bar und Sachleistungen zusammenkommen. Doch das Angebot wird offenbar missbraucht.

Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) liegen Hinweise auf gezielten Missbrauch von Förderprogrammen zur freiwilligen Rückkehr durch türkische Migranten vor. Mehrere Bundesländer und Beratungsstellen haben in den vergangenen Monaten Alarm geschlagen. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die WELT AM SONNTAG vorliegen. Bayern, Niedersachsen und Hessen bestätigten die Hinweise auf Anfrage.

Speziell türkische Staatsbürger reisen offenbar eigens nach Deutschland ein, um mit ihrer Rückkehr Finanzhilfen zu erhalten. Demnach lassen sich auffällig häufig Menschen aus der Türkei, die in Deutschland eine Asylabsicht äußern, kurz nach ihrer Ankunft über eine geförderte Ausreise beraten – wenige Monate, Wochen oder sogar Tage nach der Einreise. Mitunter, ohne ein offizielles Schutzgesuch gestellt zu haben.

Mehrere Bundesländer berichteten dem BAMF, dass die Personen oft genau über mögliche Fördergelder informiert seien. Sie „fordern diese regelrecht ein“, hieß es in einer internen Mitteilung. Das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen teilte mit, im Zusammenhang mit einer erhöhten Anzahl türkischer Antragsteller mit kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland seien Bayerns Beratungsstellen „sensibilisiert, auf eine etwaige zweckwidrige Inanspruchnahme von Förderleistungen besonders zu achten“.

 

Niedersachsen gab an, seit dem zweiten Quartal 2023 sei „insbesondere die Zahl der freiwilligen Ausreisen mit einer sehr kurzen Verweildauer in Niedersachsen deutlich gestiegen“. Es handele sich dabei „überwiegend um Männer im Alter von 19-45 Jahren“. Man habe das BAMF unterrichtet. Hessens Innenministerium ließ wissen, in Rückkehrberatungsstellen seien vermehrt missbräuchliche Förderantragstellungen aufgefallen.

Darauf deuteten „eine sehr kurze Aufenthaltsdauer in Deutschland vor Beantragung der Rückkehrförderung, der Verzicht auf eine Asylantragstellung bzw. die unmittelbare Rücknahme des Antrags sowie widersprüchliche Angaben zum Zweck der Einreise und des Aufenthaltes sowie zu den Gründen der Rückkehr“ hin.

Zahl geförderter türkischer Staatsbürger sprunghaft angestiegen

Die zuständige Senatsverwaltung aus Berlin meldete als einzige Stelle konkrete Zahlen zu mutmaßlichem Betrug. Demnach wurde 2023 in 17 Fällen türkischer Staatsbürger offensichtlicher Missbrauch festgestellt (gegenüber 106 geförderten Ausreisen), im laufenden Jahr waren es bisher fünf. Andere Bundesländer verwiesen an die Bundesbehörde oder gaben an, keine eigenen Erkenntnisse zu haben.

Dabei geht es vorrangig um Leistungen unter REAG/GARP, einem von Bund und Ländern finanzierten Hilfsprogramm zur freiwilligen Rückkehr. Es richtet sich unter anderem an Flüchtlinge, abgelehnte Asylbewerber und ausreisepflichtige Ausländer, aber auch an Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Die Zahl türkischer Staatsbürger, die darüber gefördert ausreisen, ist sprunghaft gestiegen. Sie wuchs von 226 im Jahr 2022 auf 1616 im Jahr 2023. Dieses Jahr waren es bislang 586 (Januar bis April), teilte eine Sprecherin des BAMF mit.

Im vergangenen Jahr verließ knapp die Hälfte dieser Rückkehrer (48,5 Prozent) Deutschland innerhalb von sechs Monaten nach der Einreise. Aktuell liegt der Anteil bei rund 42,7 Prozent. Die höchsten Werte für dieses und letztes Jahr

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Die Beträge unterscheiden sich nach individueller Situation. Voraussetzung ist, dass die Menschen mittellos sind. Ein förderfähiger türkischer Erwachsener erhält unter REAG/GARP 200 Euro Reisebeihilfe und 1000 Euro Starthilfe. Eine frühe Rückkehr, etwa bei vorzeitigem Verzicht auf ein Asylgesuch oder innerhalb von zwei Monaten nach Asylentscheid, wird mit 500 Euro gefördert.

Diese bis zu 1700 Euro werden bei der Ausreise bar ausgezahlt. Mit der sogenannten StarthilfePlus des Bundes kommen sechs Monate nach der Rückkehr 400 Euro hinzu. In der Türkei, wo der Mindestlohn 17.002 Lira (umgerechnet rund 488 Euro) beträgt, ist das viel Geld.

Zusätzlich kann das Förderprogramm EURP (vormals JRS) der EU-Grenzschutzagentur Frontex in Anspruch genommen werden. Es gewährt freiwilligen Rückkehrern eine Kurzzeithilfe von 615 Euro pro Person als Sachleistung oder bar, etwa für den Flughafentransfer und die Weiterreise.

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Bis zu zwölf Monate nach der Rückkehr folgt eine Langzeitunterstützung für Sachleistungen wie Wohnhilfe, Bildungsmaßnahmen, Unterstützung bei einer Geschäftsgründung oder psychosoziale Hilfe im Gegenwert von 2000 Euro. Nach Informationen von WELT AM SONNTAG wurden 2023 für Deutschland die EURP/JRS-Anträge von 573 türkischen Staatsbürgern bewilligt. Sie standen damit an zweiter Stelle der meist geförderten Nationalitäten (nach Irakern). Die meisten entfielen auf Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen.

 

Feststellung von Betrug „zeitintensiv und aufwändig“

Grundsätzlich sind finanzielle Anreize zur freiwilligen Ausreise aus deutscher Sicht gut investiert, denn die Unterbringung und Versorgung von Migranten und Flüchtlingen ist ungleich teurer. Ebenso Abschiebungen, die zudem selten auf Anhieb gelingen. Die Starthilfen soll die Menschen unterstützen, sich in ihren Heimatländern eine nachhaltige Existenz aufzubauen, indem sie zum Beispiel ein kleines Geschäft gründen. Dies trägt dazu bei, Fluchtursachen zu bekämpfen.

Allerdings verfehlen die Maßnahmen ihr Ziel, wenn sie missbraucht werden. In solchen Fällen entfallen Starthilfe und sonstige Gelder; ein Taschengeld von 50 Euro ist möglich. In wie vielen Fällen 2023 und 2024 Rückkehrhilfen versagt oder nur in vermindertem Umfang gewährt wurden, werde statistisch nicht erfasst, teilte das BAMF mit. Jeder Fall unterliege einer Einzelfallprüfung – ein aus Sicht der Bundesländer mühsamer Prozess.

Auf einem Formular können die dortigen Rückkehrberater vermerken, wenn sie einen Betrug vermuten. Die letzte Entscheidung aber liegt beim BAMF, das eine kurze Aufenthaltsdauer allein für unzureichend hält, um möglichen Missbrauch festzustellen. Die Bundesbehörde verlangt eine vertiefte Begründung, die „zeitintensiv und aufwändig“ sei.

Diese Kritik findet sich in einem Protokoll eines im April eigens zu dem Thema abgehaltenen Treffens, an dem unter anderem Vertreter der Länder, des BAMF und des Bundesinnenministeriums teilnahmen. „Einige Beratende entschließen sich auch, das Kreuz bei zweckwidriger Inanspruchnahme nicht zu setzen, um dadurch Diskussionen und möglichen Konflikten mit den Rückkehrenden zu entgehen“, heißt es weiter.

Einige Länder plädieren für eine deutschlandweit einheitliche Regelung und eine grundsätzliche Kürzung von Förderleistungen für Türkei-Rückkehrer. Nach wie vor ungelöst ist die Frage, ob frühe Ausreisen gefördert oder geahndet werden sollen. Zum einen will man keine Anreize zum längeren Verbleib in Deutschland schaffen. Zum anderen wird eine geringe Aufenthaltsdauer als Indiz für Missbrauch gesehen – weil fraglich ist, ob überhaupt reintegriert werden muss, wer sein Heimatland erst kürzlich verlassen hat.

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alexander Throm, spricht von „kriminelle[r] Plünderung von Steuermitteln“ und fordert, „dass das BAMF hier hart durchgreift und gegebenenfalls auch strafrechtliche Schritte einleitet“. Jede freiwillige Ausreise sei zwar besser als eine Abschiebung – zumal eine gescheiterte –, aber die Anreize für den Missbrauch von Rückkehrförderungen „müssen wir trotzdem möglichst gering halten“, so Throm. „Hier könnte man über eine Staffelung der Förderungen nach geografischer Nähe der Herkunftsländer zu Deutschland nachdenken.“

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, sagt: „Wir nehmen jeden Hinweis zu missbräuchlichen Inanspruchnahmen von Finanzhilfen für die freiwillige Rückkehr durch Migranten ernst.“ Die Rückkehrberatungen seien sensibilisiert und gingen entsprechenden Verdachtsmomenten nach, so Hartmann. „Sollte sich der Verdacht bestätigen, hat das BAMF die Möglichkeit, die Finanzhilfe zu versagen.“ Sollte es zu Missbrauch kommen, müsse man diesen verhindern.