Wie die Grünen auf ihren Showdown in der Migrationsdebatte zusteuern
Bei den gebeutelten Grünen ist vom wichtigsten Parteitag seit mehr als 20 Jahren die Rede: Bei dem Treffen kommende Woche droht sich der Frust über das grüne Debakel-Jahr zu entladen. Viele in der Basis wollen die härtere Linie der Bundesführung in der Migrationspolitik nicht hinnehmen.
Einer, der viel zu sagen hätte zum Thema Nummer eins beim Bundesparteitag der Grünen, der kommt erst gar nicht. Jens Marco Scherf, einer von gerade einmal zwei Landräten, die die Partei bundesweit stellt, bleibt lieber zu Hause im unterfränkischen Landkreis Miltenberg. Dort gebe es genug zu tun. Nächste Woche, sagt Scherf, gelte es zum Beispiel, eine Notunterkunft für Asylbewerber – ein leer stehendes Schulgebäude – zu reaktivieren.
Seit Beginn dieses Monats muss der Kreis Miltenberg 40 bis 50 Migranten pro Woche in seinen Gemeinden unterbringen. Das sind etwa doppelt so viele wie in den ersten zehn Monaten dieses Jahres wöchentlich kamen. Die regulären Unterkünfte in den Gemeinden des Kreises, berichtet der Landrat, sind allesamt belegt. „Die Lage ist noch einmal prekärer geworden“. Eine zweite Notunterkunft, eine ehemalige Gewerbehalle mit 60 Plätzen, stehe schon bereit. Für die dritte – ein Thermozelt für rund 100 Personen – sucht Scherf derzeit noch eine geeignete Fläche.
Keine Zeit also für eine Reise nach Karlsruhe, wo die rund 1000 Delegierten des 49. Grünen Parteitags ab dem kommenden Donnerstag unter anderem einen Bundesvorstand wählen, ein Programm für die Europawahl verabschieden und eine Kandidatenliste für diese Wahl aufstellen wollen. Eigentlich eine überschaubare Agenda für einen viertägigen Parteitag.
Doch angesichts der kaum zu verbergenden Unzufriedenheit vieler Grüner mit der Rolle ihrer Partei innerhalb der Ampel-Koalition, angesichts erodierender Akzeptanz grüner Politik sowohl bei den Wählern als auch bei potenziellen Koalitionspartnern wittert der Bundesvorstand erhebliches Stresspotenzial.
Vom „wichtigsten grünen Parteitag“ seit der Kosovo-Debatte im Jahr 1999 ist die Rede. Damals, zu Zeiten der rot-grünen Koalition, flogen Farbbeutel in Richtung der grünen Prominenz um den früheren Außenminister Joschka Fischer. Vergleichbar krawallige Szenen, Demonstrationen grüner Zerstrittenheit sollen in Karlsruhe möglichst vermieden werden. Ob das gelingt, wird sich vermutlich schon am Donnerstagabend zeigen.
Für diesen Zeitpunkt hat der Bundesvorstand das grüne Herzensthema Migrationspolitik auf die Tagesordnung gesetzt. Geplant ist, quasi zum kollektiven Dampfablassen, eine Debatte über „Humanität und Ordnung“. Über Flucht und Abschiebung. Willkommenskultur und Grenzkontrollen Schaffen und nicht schaffen. Gut und Böse. Über grüne Identität in Zeiten allgemeiner gesellschaftlicher Verunsicherung. „Das“, sagt Jens Marco Scherf, „tue ich mir nervlich nicht an“.
Miltenbergs Landrat gehört neben dem Stuttgarter Regierungschef Winfried Kretschmann zu den wenigen grünen Politikern, die derzeit offensiv und ohne große Rücksichtnahme auf die Parteiseele für eine harte Kursänderung in der grünen Asylpolitik werben. Für eine „Eindämmung der irregulären Migration“, wie es Kretschmann in dieser Woche ausgedrückt hat. Für „Asylverfahren in Drittstaaten“, die aus Sicht von Jens Marco Scherf, „die einzige Chance sind, die Todesfalle Mittelmeer zu umgehen und den Schlepperbanden das Handwerk zu legen“. Ein Satz, für den er in der Karlsruher Messehalle absehbar wenig Beifall erhalten würde.
Das Wort „Ordnung“ ist hier nicht sehr beliebt
Wer sich in den Parteitagsunterlagen durch Anträge und Änderungsanträge zum Thema Migration liest, der findet dort zum einen den Versuch des Bundesvorstands, das von der Sehnsucht nach umfassender Humanität und Fürsorge gegenüber jedermann geprägte Selbstverständnis der Grünen wenigstens einigermaßen mit der aktuellen gesellschaftlichen Realität zu versöhnen.
Zum anderen den nicht nur im Landkreis Miltenberg mehrheitlich getragenen Wunsch der einheimischen Bevölkerung nach Abschreckung und Begrenzung des Zuzugs. Nicht zu überlesen ist in den Anträgen aus der Parteibasis aber auch die Neigung vieler Delegierter, die jüngsten Migrationsbeschlüsse von Ampel-Koalition und Ministerpräsidentenkonferenz, erst recht die Mahnungen und Warnungen der Kretschmanns und Scherfs zumindest auf dem grünen Parteitagspapier zu konterkarieren.
So würden zahlreiche Antragsteller, das Wort „Ordnung“ am liebsten aus dem Kanon grüner Migrationspolitik tilgen beziehungsweise durch Worte wie „Menschenwürde“, „Solidarität“ oder „Menschenrechte“ ersetzen. Begründung: Die Verwendung des Begriffes „Ordnung“ in Bezug auf das Thema Migration reproduziere „rassistische und rechte Erzählungen“ und sei „mit der Idee der Humanität“ unvereinbar.
Gestrichen werden sollte nach den Wünschen eines Teils der Parteibasis auch die Zustimmung der grünen Ampel-Minister zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS), zu Abschiebelagern an den EU-Außengrenzen und zur Ausweisung weiterer Drittstaaten. „Alle Asylanträge von Menschen, die in die EU fliehen, müssen inhaltlich geprüft werden“, heißt es in einem Antrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Flucht und Migration, „die Abschiebung in angeblich sichere Drittstaaten ist keine Lösung“. Seenotrettung im Mittelmeer, auch diese Forderung findet sich im grünen Antragskonvolut, müsse künftig staatlich organisiert werden.
Wie aufgeladen die Stimmung an der Parteibasis ist, zeigte in dieser Woche ein von Hunderten Mitgliedern unterschriebener offener Brief, in dem die grüne Parteispitze wegen der Ampel-Politik insgesamt kräftig kritisiert und als „Werbeagentur für schlechte Kompromisse“ bezeichnet wird. Dieser Unmut über den Kurs der Bundesregierung hatte sich am vergangenen Wochenende auch schon beim Parteitag des niedersächsischen Landesverbandes der Grünen Luft gemacht.
Dort sprachen sich die Delegierten nahezu einstimmig gegen weite Teile jener Beschlüsse aus, die Winfried Kretschmann als einziger Regierungschef mit grünem Parteibuch bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler nicht nur klaglos mitgetragen, sondern persönlich forciert hatte. Der Versuch des Stuttgarter Regierungschefs, im Vorfeld des Parteitags zusammen mit Parteichefin Ricarda Lang eine für alle grünen Strömungen tragbare Migrationspolitik zu formulieren, war spätestens zu diesem Zeitpunkt kläglich gescheitert.
Kein Wunder, dass nicht nur Jens Marco Scherf mit seiner Partei hadert.
„Damit tun wir uns und Ansehen Deutschlands keinen Gefallen“
So forderte Matthias Schimpf, für die Unterbringung von Asylbewerbern im hessischen Landkreis Bergstraße zuständiger Vize-Landrat, seine Partei in dieser Woche auf, endlich zu verstehen, dass die Integration von Geflüchteten „ohne wirksame Maßnahmen zur Begrenzung der illegalen Migration“ nicht möglich ist.
Menschen mit geringer Bleibeperspektive dürften nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Deren Asylverfahren müssten flächendeckend in Ankerzentren von Bund und Ländern, womöglich auch „in den deutschen Auslandsvertretungen“ betrieben werden. Andernfalls, so Schimpf zu WELT AM SONNTAG, „verlieren wir die gesellschaftliche Akzeptanz“.
Es ist nicht so, dass alle grünen Polit-Praktiker vor Ort den Zuzug nach Deutschland möglichst sofort begrenzen wollen wie der Hesse Schimpf und der Bayer Scherf. Die kontroverse Suche der Grünen nach einer politischen Linie, die die angeschlagene Partei nicht noch weiter isoliert und auf die eigene Stammklientel reduziert, spiegelt sich auch auf der kommunalen Ebene.
Wolfgang Pieper zum Beispiel, Bürgermeister im westfälischen Telgte, hält anders als der Hesse Schimpf „gar nichts“ von der Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer. Pieper wünscht sich vom grünen Parteitag vielmehr ein klares Bekenntnis zum Asylrecht. „Wir sollten nicht das Signal senden, Deutschland ist so unattraktiv, bleibt besser weg. Damit tun wir uns und dem Ansehen Deutschlands in der Welt keinen
Gefallen.“
Auch Steffen Fassbinder, Oberbürgermeister im vorpommerschen Greifswald, müht sich, der hitzigen grünen Migrationsdebatte eine andere Richtung zu geben. „Wir machen uns zu viele Gedanken darüber, wie wir es schaffen, dass weniger Menschen zu uns kommen. Wir sollten uns mehr Gedanken darüber machen, wie wir es schaffen, dass ausreichend Leute in den Arbeitsmarkt kommen.“ Im Übrigen, sagt Fassbinder, sei es „eine völlige Illusion, zu glauben, dass man die Menschen aufhält, indem man die Zäune zwei Meter höher zieht“.