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Fachkräfte aus der Ukraine | "Die deutsche Bürokratie zu verstehen, ist wirklich schwierig"
Menschen aus der Ukraine könnten den Fachkräftemangel lindern. Doch es gibt große Hürden – zum Beispiel die deutsche Bürokratie.
Wenn Viktoriia Kramarova von ihrer Heimat erzählt, spricht sie noch leiser als sonst. Sie kramt in einem grauen Rucksack und holt ihr Handy hervor. Manches kann man nicht aussprechen, nur zeigen. Aus dem Video, das sie nun abspielt, klingt die Stimme ihres Vaters, er sagt etwas auf Ukrainisch, im Hintergrund hört man seine Schritte.
Die Räume, durch die er streift, waren einst das Zuhause der Familie Kramarova. Nun ist der fünfte Stock des Hochhauses zerstört, der Putz abgeplatzt, die Wände sind aschgrau, Fenster und Türen fehlen. Kramarova beißt sich auf die bebende Unterlippe, ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Meine Eltern und ich wurden von den Explosionen aus dem Schlaf gerissen", erzählt sie. "Ich bin einfach nur froh, dass meine Familie, meine Freunde am Leben sind."
Entstanden ist die Aufnahme in der ukrainischen Stadt Charkiw, 2.380 Kilometer entfernt von dem Ort, wo die 22-Jährige jetzt sitzt: Walldorf in Baden, ein Städtchen, in dem kaum mehr als 15.000 Einwohner leben – und Deutschlands wertvollstes Unternehmen SAP seinen Hauptsitz hat. Dort arbeitet Viktoriia Kramarova seit Mai als IT-Spezialistin.
SAP hat deshalb bereits im März, nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine, überlegt, wie man offene Stellen mit Geflüchteten besetzen könnte. "Wir haben sofort erkannt, dass das hier eine Chance für beide Seiten ist", sagt Sprecher Thomas Leonhardi. Neue Jobs habe man zwar nicht geschaffen, aber den Zugang zu den bestehenden erleichtert.
"Dazu haben wir eine Plattform in Englisch und Ukrainisch aufgesetzt, auf der sich die Bewerberinnen und Bewerber über SAP und unsere Vakanzen informieren können." Insgesamt 26 Stellen habe SAP so mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern besetzen können, knapp 1.000 Bewerbungen habe es gegeben.
Das ukrainische Silicon Valley
Kramarova kennt sich aus mit Computern und Coding, das Programmieren komplexer IT-Anwendungen ist für sie Alltag. Die Ukraine ist bekannt für ihre top ausgebildeten IT-Fachleute. "Ich schätze, gut 70 Prozent meiner Freunde arbeiten auch als Software-Spezialisten", erzählt Kramarova auf Englisch. "Diese Jobs sind wahnsinnig beliebt in der Ukraine."
Das gilt besonders für ihre Heimatstadt Charkiw, das viele das ukrainische Silicon Valley nennen. Vor dem Krieg waren dort 450 IT-Firmen niedergelassen, die mehr als 25.000 IT-Fachkräfte beschäftigten. Wie Viktoriia Kramarova sind viele von ihnen in die Westukraine oder die Europäische Union geflohen. Theoretisch können sie von überall arbeiten, die Sprache der Codes ist universell.
Können also ukrainische Computerexperten wie Kramarova das Fachkräfteproblem lösen?
Bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gibt man sich in dieser Frage eher zurückhaltend. In der Regel hätten Geflüchtete einen befristeten Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen. "Ob Fachkräfte, übrigens nicht nur aus der IT-Branche, dauerhaft dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, hängt von den weiteren, auch politischen Entwicklungen sowie den individuellen Wünschen und Voraussetzungen der Geflüchteten ab", sagt ein BA-Sprecher auf t-online-Anfrage. Auch Viktoriia Kramarova möchte zurück in die Heimat, wenn der Krieg vorbei ist. "Aber es ist schwer zu sagen, wann das sein wird."
Zum aktuellen Zeitpunkt ist außerdem unklar, wie viele IT-Fachkräfte aus der Ukraine überhaupt in Deutschland ankommen. Angaben zu Bildungsabschlüssen seien bislang noch nicht ausreichend erfasst. "Die genaue Anzahl von IT-Fachkräften zu ermitteln, könnte aber auch deshalb schwierig werden, weil viele sich direkt bei den Unternehmen melden und nicht über die Jobcenter vermittelt werden", heißt es von der Arbeitsagentur. "Da hilft, dass viele gut Englisch sprechen oder von Privatpersonen bei der Jobsuche unterstützt werden."