60 Jahre Anwerbeabkommen: Steinmeier: Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund
| 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Der Bundespräsident empfängt Angehörige der "Gastarbeiter"-Generation und ihre Nachkommen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einem Empfang für frühere so genannte Gastarbeiter:innen aus der Türkei deren Verdienste um Deutschland gelobt. Nicht nur das westdeutsche Wirtschaftswunder, auch die Entwicklung der deutschen Gesellschaft verdanke sich maßgeblich ihnen und anderen Migrant:innen. "Sie haben viel dazu beigetragen, dass Deuschland heute gesellschaflichen offener und vielfältiger, wirtschaftlich stärker und wohlhabender ist." Dafür danke er „als Bürger und als Bundespräsident“. Nicht die Arbeitsmigrant:innen von damals seien Menschen mit Migrationshintergrund:„Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.“
Anlass für den Empfang war das bevorstehende Jubiläum des deutsch-türkischen Anwerbevertrags vom 30. Oktober 1961. Der erste wurde 1955 mit Italien geschlossen. Der Empfang war der Auftakt des Programms, das der Bundespräsident zum Jahrestag plant... Darunter Rentnerinnen wie die 87-jährige Hediye Yonca, die Anfang der 1960er Jahre allein, auch ohne ihre Kinder, nach Deutschland gekommen war, wie Vertreter der nächsten Generationen, die Berliner Psychiatrieprofessorin Meryam Schouler-Ocak und der Astrophysiker Akin Yıldırım. Yıldırım ist Professor am Max-Planck-Institut und der einzige Deutsche, der am Nasa-Teleskop mitarbeitet.
Lebenschancen bleiben ungleich verteilt
Steinmeier erwähnte auch Ausgrenzung und Verachtung, die seine Gäste hätten erleben müssen. Mit "Hoffnung, Zuversicht, Aufbruch" verbänden sich auch "Bilder, die nur schwer zu ertragen sind": Erniedrigende Leibesvisitationen, denen die jungen Leute bei der Einstellungsuntersuchung unterzogen wurden, oder unwürdige Unterbringungen in engen, baufälligen Baracken, Menschen, denen Jahre später die harte Arbeit alle Kraft genommen habe. Diese Bilder bestürzten bis heute, auch dadurch, weil sie "den Blick auf uns selbst" eröffneten.
Dies alles gebe es bis heute. Fünfmal mehr Kinder aus eingewanderten Familien verließen die Schule ohne Abschluss. Jede und jeder trage zwar selbst ein Gutteil Verantwortung für seine Zukunft. "Nur: Verschlossene Türen aufzustoßen - das ist eine Frage der gesellschaftlichen Strukturen." Wenn nach 60 Jahren „die Kluft der Lebenschancen“ noch so groß sei, "dann trägt auch unser Staat eine Verantwortung".
Vom Glück des Ankommens in Deutschland, aber auch der Desorientierung am Anfang sprach nach Steinmeier der heute 75-jährige Mustafa Cetinkaya. Weil er rasch etwas Deutsch gelernt hatte, baten ihn deutsche Kollegen von der IG Metall, für den Betriebsrat seiner Firma zu kandidieren. "Ich wusste nicht einmal, was ein Betriebsrat war." Aber die Kollegen versprachen, ihm zu helfen. "Die Menschen damals haben etwas mehr Hilfsbereitschaft gezeigt als heute."
"Heimat gibt es auch im Plural"
Mehrere Gäste dankten dem Bundespräsidenten für seine Worte: Den Satz mit dem Migrationshintergrund des ganzen Landes werde sie sich merken, sagte Evren Zahirovic, Moderatorin beim WDR und Tochter türkischer Einwanderereltern. "Ich wünschte, Ihre Worte würden weit nach draußen durchsickern." Schon jetzt habe ein Großteil der Kinder unter fünf Jahren Migrationshintergrund im Sinne der amtlichen Statistik - aktuell im Schnitt ein Drittel, in vielen Städten auch die Hälfte der Kinder.
Es sei eine Überlebensfrage für Deutschland, dass ihnen die Chancen nicht versperrt würden, in Schule und Beruf Fuß zu fassen. Die Moderatorin Nazan Eckes verwies ebenso wie der Osnabrücker Professor für islamische Religionspädagogik Bülent Uçar darauf, dass sie zunächst eine Empfehlung für die Hauptschule erhalten hatten - nur wegen des Einsatzes ihrer Eltern hätten die Schulen das zurückgenommen. Uçar betonte zugleich, dass Rassismus weltweit gebe. Für Deutschland dürfe man immerhin feststellen, dass alles in allem "die überwältigende Mehrheit denkt wie der Bundespräsident".
Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für Pädagogik an der Universität Bremen, dankte Steinmeier für die Feststellung, dass es Heimat auch im Plural gebe. Sie wünsche sich, dass diese Worte "auch außerhalb dieser Räume" im Berliner Schloss Bellevue gehört würden. Dort und auch in der deutschen Schule herrsche dagegen die Ansicht: "Nur in einer Sprache kann man gut sein, nur in einer Kultur Heimat haben." Dieser "monolinguale Habitus der multilingualen Schule", wie ihre Kollegin Ingrid Gogolin dies genannt habe, müsse sich ändern, wenn die Schule ihre veränderten Klientel gerecht werden wolle.