Freitag, 7. Mai 2021 Politik HAZ
Flucht vor Erdogan
Immer mehr junge Türkinnen und Türken verlassen das Land – Viele wollen nach Deutschland
Von Gerd Höhler
Seit 120 Tagen protestieren in Istanbul Studenten gegen Erdogan – und werden von der Polizei hart angefasst.Foto: Hakan Akgun/dpa
Ankara. Es sollte eine Satire sein. Wozu kann ein türkischer Pass in der Pandemie nützlich sein? Wenn schon nicht zum Reisen, dann vielleicht im Haushalt, fanden zwei junge Istanbuler und posteten ein Video auf der Plattform Tiktok. Es zeigt, wie man den türkischen Pass als Lesezeichen, Ofenhandschuh oder Untersetzer verwenden kann. Ergebnis: Die beiden 23-Jährigen wurden festgenommen und in Handschellen dem Staatsanwalt vorgeführt. Auf sie wartet jetzt ein Prozess wegen „öffentlicher Beleidigung von Staatssymbolen“.
Es sind Vorgänge wie dieser, die immer mehr junge türkische Menschen daran zweifeln lassen, ob die Türkei unter Staatschef Recep Tayyip Erdogan noch ihr Land ist. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Von Anfang April 2019 bis Ende März 2020 beantragten in der EU 22 705 türkische Staatsbürger Asyl. Zum Vergleich: 2015 gab es weniger als 3000 Anträge.
Es sind keineswegs nur politische Aktivisten oder Angehörige der kurdischen Minderheit, die aus der Türkei fliehen. Immer mehr gut ausgebildete, hoch qualifizierte junge Leute kehren dem Land den Rücken und suchen ihre Zukunft im Ausland. Einer offiziellen Statistik zufolge wanderten 2019 rund 330 300 Türken aus. Die Mehrzahl war im Alter von 25 bis 29. Umfragen bestätigen den Trend. Nach einer Studie des angesehenen Meinungsforschungsinstituts Metropoll wollen 47 Prozent aller Befragten lieber im Ausland studieren oder arbeiten. Fast jeder vierte von ihnen nennt Deutschland als bevorzugtes Ziel. Die favorisierte Stadt ist Berlin, gefolgt von Düsseldorf, Köln und Frankfurt.
Der Exodus hat mehrere Gründe. Die Wirtschaftslage ist zunehmend schwierig. Die Geldentwertung zehrt an den Einkommen. Im April stieg die offizielle Inflation auf 17,1 Prozent. Unabhängige Ökonomen schätzen die tatsächliche Teuerung auf rund 30 Prozent. Die Arbeitslosenquote erreichte im Februar 13,4 Prozent. Unter den 15- bis 24-Jährigen finden sogar 27 Prozent keinen Job. Auch die Arbeitslosenstatistik gilt als geschönt. Statt offiziell gemeldeter 4 Millionen könnte es in der Türkei rund 10 Millionen Arbeitslose geben, schrieb kürzlich der Ökonom Mustafa Sönmez.
Die zunehmende politische Gängelung des Bildungswesens durch die islamisch-konservative Regierung ist ein weiterer Auswanderungsgrund. Seit 120 Tagen protestieren in Istanbul Studierende und Lehrende gegen die Ernennung eines Regierungspolitikers zum Rektor der früher als liberal geltenden Bogazici-Universität. Der Staatschef hatte seinen Parteifreund Anfang Januar ohne die üblichen Anhörungen an die Spitze der Hochschule berufen.
Schon 2012 verkündete Erdogan, sein Ziel sei es, eine „fromme Generation“ heranzuziehen. Dazu fördert der Staat den Bau immer neuer religiöser Imam-Hatip-Schulen. Sie übernehmen inzwischen die Rolle allgemeinbildender Schulen. Aber viele junge Türkinnen und Türken interessieren sich mehr für Informatik als für Koranverse. Sie versuchen, sich der Islamisierung von Staat und Gesellschaft zu entziehen und gehen ins Ausland oder träumen zumindest davon. Der ohnehin innovationsschwachen türkischen Wirtschaft droht ein gefährlicher Braindrain. Das Land ist dabei, seine besten Talente zu verlieren.
Staatschef Erdogan mag es recht sein, wenn kritische junge Menschen das Land verlassen. Auf ihre Wählerstimmen kann er ohnehin nicht hoffen. Wie aufmüpfig die Stimmung unter der Jugend ist, erlebte Erdogan im vergangen September bei einer auf Youtube übertragenen Videokonferenz mit Schülern und Studierenden. Je länger Erdogans Rede dauerte, desto mehr kritische Kommentare äußerten die jungen Leute im Chat – von Slogans wie „Keine Stimme für Dich“ bis zu „Bye Bye Erdogan“. Rund 340 000 Dislikes kassierte der Staatschef, bevor seine Mitarbeiter nach 39 Minuten die Kommentarfunktion kurzerhand abschalteten, um die Kritiker mundtot zu machen.