„Mafia, komm raus!“ in der Türkei: Spuren führen bis nach Deutschland

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dtj-online

Mafia, manchmal auch Palermo genannt, ist ein geselliges Ratespiel. Das Spiel funktioniert am besten, wenn es mehrere Mitspieler und einen Leiter gibt. In der Türkei sind nun vier große Player an den Tisch zurückgekehrt, teilweise direkt aus der Haft. Die Rede ist von Alaattin Çakıcı, Mehmet Ağar, Engin Alan und Korkut Eken. Doch wer ist der Leiter in diesem Spiel?

Mafia gibt es überall. Egal wo sie sind, geht es um Drogen, Schwarzgeld, Prostitution sowie Mord und Totschlag. In mediterranen Regionen dieser Welt ist die Mafia zudem noch „patriotisch“, etwa in Italien oder in der Türkei. Natürlich geht es hierbei um eine selbstdefinierte und höchst fragwürdige Art des Patriotismus. Dazu zählen „Attentate für den Staat“, wie beispielsweise jenes auf Papst Johannes Paul II. Den Mordanschlag auf das Oberhaupt der katholischen Christen verübte Mehmet Ali Ağca am 13. Mai 1981. Drei Kugeln trafen den Papst und verletzten ihn schwer.

Der türkische Rechtsextremist hatte bereits drei Jahre zuvor den Journalisten Abdi Ipekçi ermordet. Seine Verbindungen zur Mafia sind mittlerweile bekannt. 2020 sprach Ağca über den mittlerweile wohl in Ungnade gefallenen und flüchtigen Mafia-Boss Sedat Peker. „Alle Wege haben sie versperrt. Nur dem Möchtegern-Mafiosi voller Botox haben sie den Weg geebnet“, spielte Ağca auf die damaligen politischen Verbindungen Pekers an. Während der Papst-Attentäter Peker ablehnt, ist er ein bekennender Fan von Alaattin Çakıcı.

Çakıcı ein schweres Kaliber

Der 68-Jährige Çakıcı gilt als der wahre Pate in der Türkei. Er wurde 1998 in Frankreich wegen zahlreicher Vergehen verurteilt. 2006 erhielt er wegen Anstiftung zum Mord an seiner Ex-Frau lebenslängliche Haft. Das Strafmaß wurde später auf knapp 19 Jahre reduziert. Devlet Bahçeli, Vorsitzender der ultranationalistischen MHP, hatte bereits 2018 Çakıcıs Freilassung gefordert und diese mit dem Koalitionspartner AKP schließlich durchgesetzt.

Die Folgen dieser politischen Freilassung zeigten sich schnell. Ende vergangenen Jahres machte Çakıcı mit seinem handschriftlichen Drohbrief gegen CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu auf sich aufmerksam. Seither wächst der Einfluss von Çakıcı mehr und mehr. Zuletzt kam er mit Mehmet Ağar, Engin Alan und Korkut Eken in Bodrum zusammen. Ein Treffen von Schwergewichten der türkischen Unterwelt mit viel Aussagekraft. Warum sie sich getroffen haben, ist nicht bekannt.

Mafia mit besten Beziehungen zur Regierung

Dass Bahçeli und Çakıcı im Geiste verbrüdert sind, ist mittlerweile ein offenes Geheimnis. Doch auch andere Mitglieder der türkischen Regierung unterhalten mit Schwergewichten dieses Tisches in Bodrum beste Beziehungen. Yavuz Selim Kıran etwa, seines Zeichens stellvertretender Außenminister der Türkei.

Mehmet Ağar hatte Kıran gerade besucht, als Sedat Peker in Nordmazedonien von der örtlichen Polizei festgenommen wurde. Peker sollte in die Türkei abgeschoben werden. Seine Bemühungen, sich in das Drogengeschäft in Nordmazedonien einzuschleusen, wurden enttarnt. Doch Peker durfte auf eigenen Wunsch in den Kosovo ausreisen.

Kenner der Szene glauben, dass dieser Vorgang mit dem Besuch von Ağar bei Kıran zu tun hat. Die „Botox-Mafia“ habe diese sehr spezifische Botschaft verstanden, die laute: „Du hast keinen Platz mehr an unserem Tisch der Wölfe“. Diese Atmosphäre der Rehabilitation der türkischen Mafia wird im Guardian als ein starkes Signal für den Rückfall der Türkei in die Verhältnisse der 80er Jahre gewertet. Praktiken in der Türkei, die speziell im Zuge des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zutage getreten sind, hatten bereits mehrfach diesen Anschein erweckt.

Die Unsichtbaren: Entführungen, Folter, Vergewaltigung

Die 80er Jahre der Türkei sind dunkel und blutig, gekennzeichnet durch Gewalt zwischen türkischen Rechtsextremisten und linken Gruppen aus dem kurdischen Spektrum. Damals hat sich der türkische Geheimdienst mit der Mafia zusammengetan, um politische Attentate durchzuführen. Dieser unheilige Bund wurde aufgedeckt, als ein Autounfall in Susurluk zum Tode eines Abgeordneten, des stellvertretenden Polizeichefs von Istanbul sowie dem Anführer der Grauen Wölfe führte.

Entführung und Folter von linken sowie pro-kurdischen Aktivist:innen gehörte ebenfalls zur gängigen Praxis. Die weißen „Toros-Vans“ wurden zum Sinnbild der Entführungen von Oppositionellen. Diese Praxis scheint derzeit eine Wiedergeburt zu erleben. Noch im Januar tauchte der tagelang vermisste Gökhan Güneş auf und gab an, entführt und gefoltert worden zu sein. Seine Peiniger hätten sich als „die Unsichtbaren“ zu erkennen gegeben. Doch wer steckt hinter diesem Schleier?

Mafia, Staat oder Mafia-Staat?

Unter den Gesichtspunkten, dass sich die türkische Mafia bereits in der Vergangenheit dazu berufen gefühlt hat, die „Drecksarbeit“ für skrupellose Regierungen zu übernehmen, liegt der Verdacht an einer Beteiligung besagter Mafiosi an den aktuellen Entführungen nahe. Doch angesichts der personellen Verstrickungen zwischen Regierungsmitgliedern und namhaften Mafia-Anführern richtet sich der Blick auch in Richtung türkischer Regierung.

Der Einfluss von Devlet Bahçeli scheint sich immer mehr bemerkbar zu machen. Die Folgen sind gravierend. Während die türkische Opposition ohnehin unter Druck steht, wie auch das jüngste Hafturteil gegen den HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu vor Augen führt, wird die Drohkulisse durch Aktionen wie dem Drohbrief von Alaattin Çakıcı nur noch weiter ausgebaut. Gemessen an ihren Taten in der Vergangenheit und ihrer politischen sowie strukturellen Vernetzung ist die Bedrohung durchaus real. Çakıcı ist nicht nur für Mitglieder der Regierung, sondern auch für hochrangige Personen aus den Sicherheitskreisen eine echte Größe.

Junge Möchtegern-Mafia nach dem Vorbild der Großen

So genießen derzeit Personen wie Çakıcı einen Legendenstatus. Das sieht man am besten bei einem Blick auf die Social Media-Kanäle ihrer Neffen und jüngeren Verwandten. Sie sehen aus, als wären sie aus der türkische Kultserie „Tal der Wölfe“ entsprungen. Sie posieren auf Instagram in teuren Sportwagen, haben ihre ganz eigenen Handlanger und führen sich auf wie die Könige dieser Welt.

Neben Fotos und Videos über ihr protziges Leben in Prunk und Glamour tauchen immer wieder Fotos mit türkischen Ministern wie etwa Mevlüt Çavuşoğlu (Außenminister), Hulusi Akar (Ex-Generalstabschef und heutiger Verteidigungsminister) sowie Hakan Fidan (Geheimdienstchef) auf. Und dann gibt es diese Querverweise und Verlinkungen. Fotos mit den großen Legenden der Mafia, etwa Alaattin Çakıcı oder Mehmet Ağar. Bei einem näheren Blick auf diese Vernetzungen reichen diese fragwürdigen Verbindungen bis nach Deutschland, zu deutschen Unternehmern und auch Politikern.