Beim Spitzentreffen in Ankara saß der EU-Ratspräsident gleich neben Erdogan. Die Kommissionspräsidentin musste entfernt Platz nehmen. Ankara schiebt die Verantwortung von sich.

„Die Präsidentin war ganz klar überrascht“: Beim EU-Türkei-Treffen in Ankara wurde EU-Kommissionschefin von der Leyen nicht auf Augenhöhe mit Präsident Erdogan und EU-Ratspräsident Michel platziert. © dpa „Die Präsidentin war ganz klar überrascht“: Beim EU-Türkei-Treffen in Ankara wurde EU-Kommissionschefin von der Leyen nicht auf Augenhöhe mit Präsident Erdogan und EU-Ratspräsident Michel platziert.

Wenn sich Staats- und Regierungschefs verabreden, ist eigentlich alles geplant. Ablauf, Themen, Sitzordnung. Trotzdem verschlug es EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen die Sprache, als sie das Arbeitszimmer des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan betrat.

Beim obligatorischen Foto standen Erdogan, von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel noch gemeinsam in der Mitte des Raums. Danach nahmen die Herren mittig auf zwei großen Stühlen Platz.

Für die Kommissionspräsidentin blieb kein Sitz übrig. „Ääähm...“, sagte sie nur, wie die laufenden Kameras den Vorgang dokumentierten. Anschließend bekam sie einen Platz auf einem Sofa in einiger Entfernung der beiden zugewiesen. Dort saß sie dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu gegenüber, der ebenfalls an dem Gespräch teilnahm.

Dieser hat sich nun konkret zu dem Vorfall geäußert. Die Türkei habe nicht zum ersten Mal hochrangige Gäste eingeladen. „Die Forderungen der EU-Seite wurden erfüllt“, erklärte Cavusoglu am Tag nach dem „Sofa-Gate“. „Dies bedeutet, dass die Sitzordnung nach ihren Vorschlägen getroffen wurde. Unsere Protokolleinheiten kamen zuvor zusammen, und ihre Anforderungen wurden berücksichtigt.“

Bei dem Treffen mit Erdogan hatten die EU-Spitzen am Dienstag über einen möglichen Ausbau der Beziehungen der EU zur Türkei diskutiert. Hintergrund sind Beschlüsse des EU-Gipfels vor eineinhalb Wochen. Dabei hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die Beziehungen zur Türkei schrittweise wieder auszubauen. Mit dem Beschluss will die EU die Eskalation weiterer Konflikte abwenden.

Die Bedeutung des Protokolls

Was von dem Treffen der EU und der Türkei übrig blieb, war aber vor allem das „Sofa-Gate“. Auf der Kurznachrichtenplattform Twitter war die Haltung dazu schnell gefunden. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir kommentierte: „Solche Zeichen setzen autoritäre Unterdrücker & Machos wie #Putin, #Erdogan & Co bewusst. (...) Kann man sich gefallen lassen, muss man nicht. Respekt bekommt man so jedenfalls nicht bei den Herren!“

Auch in türkischen Medien hat der Sitzstreit eine Debatte entfacht. Als „Koltuk Krizi“, also als „Sitzkrise“, bezeichnete die nationalistische Zeitung Sözcü den Skandal. „Von der Leyen musste in Ankara stehen bleiben“, konstatierte der Fernsehsender T24. „Das türkische Präsidialamt verweigert einer weiblichen EU-Vertreterin einen angemessenen Sitz“, formuliert eine andere Zeitung. Auch in Europa sorgte der Vorgang für Aufregung. „Das ,Sofa-Gate‘ von Ankara wird in Erinnerung bleiben“, schreibt die italienische Zeitung „La Stampa“.

Von der Leyens Sprecher betonte nach dem Treffen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen sollten. Dafür werde man nun Vorkehrungen treffen. In der Kommission wurde zudem darauf verwiesen, dass von der Leyen das Treffen mit Erdogan genutzt habe, um mit ihm eine lange und sehr offene Diskussion über Frauenrechte und den Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die dem Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt dient, zu führen.

EU-Ratspräsident Michel erklärte einen Tag nach dem Treffen, dass eine enge Auslegung von protokollarischen Regeln durch die Türkei zu der unterschiedlichen Behandlung geführt habe, betonte aber, dass er die Situation ebenfalls als bedauerlich empfunden habe. Er und Ursula von der Leyen hätten vor Ort entschieden, die Sache nicht durch einen öffentlichen Eklat noch schlimmer zu machen, schrieb Michel auf Facebook. Stattdessen habe man die Substanz der politischen Diskussion in den Vordergrund gestellt.

EU-Ratspräsident steht im Protokoll über EU-Kommissionspräsidentin

Mit dem Verweis auf die protokollarischen Regeln erinnerte Michel daran, dass die EU-Kommissionspräsidentin in der gängigen protokollarischen Rangliste unter dem EU-Ratspräsidenten steht. Dies führe zum Beispiel auch dazu, dass Michel bei gemeinsamen Pressekonferenzen in der Regel zuerst das Wort bekommt.

In der Tat spielt das diplomatische Protokoll bei Spitzentreffen oft eine herausragende Rolle. Per Definition besteht es aus Vorschriften, die den Ablauf, aber auch die Kleiderordnung oder Sitzordnung streng beschreiben. So sollen Streitigkeiten vermieden und soll eine angenehme Atmosphäre für politische Verhandlungen geschaffen werden – eigentlich.

Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer wird dazu vorher genau informiert, wie alles abläuft. Wer trifft wen wann und wo, wessen Hände werden wann geschüttelt. Bei Gruppenfotos sind häufig Pfeile oder kleine Namensschilder für die Kameras unsichtbar am Boden angebracht, damit jede und jeder ihren Platz kennt. Zufälle? Darf es nicht geben.

Jedes Ministerium unterhält zu diesem Zweck in der Regel eigene Protokollabteilungen – so auch das türkische Präsidialamt. Gerade in der Türkei spielt das Protokoll eine herausragende Rolle. Das hat auch mit den Traditionen des Osmanischen Reichs zu tun, wo ebenfalls viel Wert auf Etikette und Rangordnung gelegt wurde.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Protokoll, beziehungsweise dessen Nichteinhaltung, für Irritationen sorgt. Beim Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Wladimir Putin im Jahr 2007 tauchte plötzlich Putins Hund auf – obwohl bekannt war, dass Merkel „eine gewisse Angst“ vor den Vierbeinern habe.

Auch die Türkei selbst bekam zu spüren, wenn das Protokoll als Machtdemonstration instrumentalisiert wird. Als Israel gegen eine türkische TV-Serie protestierte, bestellte die Regierung den türkischen Botschafter ins israelische Außenministerium. Dort ließ man ihn erst lange warten und setzte ihn dann auf ein niedrigeres Sofa.

Auf Hebräisch soll der anwesende Vizeaußenminister die israelischen Journalisten aufgefordert haben, den Unterschied in der Sitzhöhe auch recht deutlich abzubilden. Das bei solchen Treffen übliche türkische Fähnchen hatte er kurz vor dem Gespräch vom Tisch entfernen lassen, nur eine israelische Flagge blieb.

Warum bleibt Charles Michel sitzen?

Jetzt hat es die deutsche EU-Kommissionspräsidentin getroffen. Der Vorgang wirft tatsächlich einerseits ein Schlaglicht darauf, wie Erdogan sich selbst inszeniert. Eine Frau hat nichts zu sagen, solange Männer in der Runde sind – dieser Eindruck bleibt hängen.

Wirklich vollendet wurde das „Sofa-Gate“ allerdings nicht durch Erdogans Nichteingreifen, sondern durch Charles Michel. Er erhöhte sein Tempo, als er bei Betreten des Raumes seinerseits die Sitzordnung bemerkt hatte. In dem Zusammenhang stellen immer mehr Diplomaten und Beobachter eine weitere Frage: Wieso blieb Charles Michel sitzen, nachdem er die Fassungslosigkeit seiner Kollegin mit eigenen Augen gesehen hatte?

Erdogan selbst kommentierte den Vorgang nicht mehr. Wie er mit Frauen umgeht, dürfte spätestens nach seinem unilateralen Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen klar sein.

Klar ist aber auch: Einige Frauen hofiert Erdogan ganz besonders. Als Bundeskanzlerin Merkel im Februar 2017 in demselben Arbeitszimmer des türkischen Präsidenten Platz nahm, saß sie gleich neben ihm auf dem Stuhl, auf dem nun Ratspräsident Michel Platz nahm. Und 2020, bei Merkels jüngstem Besuch in der Türkei, wurde ihr sogar ein vergoldeter Sitz zur Verfügung gestellt.

Mehr: Die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara stecken in einer schweren Krise.

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