Interview: „Des einen ‚Held‘, des anderen ‚Henker‘“
Anlässlich des Pogroms vor 42 Jahren an den Aleviten in der türkischen Stadt Maraş hat das Deutsch-Türkische Journal mit dem kurdischen Filmemacher und Dokumentar Kazım Gündoğan gesprochen. Dabei ging es um die Einordnung der historischen Ereignisse aus dem Ende des Jahres 1978, die Situation der alevitischen Bevölkerung im Lichte der türkischen Parteienlandschaft und um die Kritik am türkischen Nationalismus sowie religiösem Extremismus. Gündoğan bezeichnet im Interview die Kızılbaş-Aleviten als keinen Teil des Islam. Damit gibt er die Ansicht einer Minderheit innerhalb der alevitischen Community wieder. Dabei ist die alevitische Community sehr vielfältig. Die Mehrheit sieht sich als einen Teil der islamischen Religion und somit als Bestandteil des Islam. Die Aleviten sehen sich als einen Orden der islamischen Mystik.
Herr Gündoğan, in Deutschland kennt man Gräueltaten wie das Markieren von Haustüren und die möglichen Folgen ganz gut. Was die Juden in Deutschland erlebt haben, ist ein schreckliches Beispiel dafür. Warum hat die türkische Bevölkerung die Augen vor den Ereignissen von Maraş verschlossen? Ist die türkische Wendung „Wo bleibt hier die Menschlichkeit?“ lediglich eine leere Worthülse?
Das Markieren ist eine Feststellung und die Erzeugung von Aufmerksamkeit. Das Markieren hat verschiedene Typen und Bedeutungen. Was Sie meinen, ist das X (ein Kreuz), welches ein Zeichen für das Auslöschen ist. Deshalb wird mit dieser Markierung die Vernichtung einer bestimmten Gruppe angepeilt. Genauso wie die Nazis die Juden markiert haben. So wie die deutsche Bevölkerung die Augen davor verschlossen hat, dass ein Genozid an den Juden verübt wurde, so hat auch die türkische Bevölkerung aus ähnlichen Gründen die Augen verschlossen, oder man könnte vielleicht sogar sagen, die Bevölkerung hat den Vorgang unterstützt. In beiden Gesellschaften ist ein tiefer und historischer Rassismus verankert. Die Staaten injizieren aus eigenen Interessen ihren Bevölkerungen das Gift des Rassismus. Bevölkerungen, die mit dieser giftigen Ideologie infiziert sind, schauen nicht nur weg; von ihr kann man alles Böse erwarten. Nicht nur Rassismus, auch religiöser Extremismus ist ein gleichermaßen tödliches Gift.
Für beide Ideologien ist der Mensch nur ein Mittel zum Zweck. Aus dieser Perspektive betrachtet ergibt die Frage nach der Menschlichkeit ohnehin keinen Sinn. Zwei Ideologien, die wie ein Fluch auf der Menschheit lasten: Rassismus und religiöser Extremismus. In Maraş hat der Staat unter dem Deckmantel des türkischen Rassismus und Islamismus ein Pogrom durchgeführt. Der Staat, paramilitärische Einheiten und die religiöse Schicht haben ein sehr geplantes und durchdachtes Massaker veranstaltet. Gegen wen? Gegen die „nicht-islamischen“ Kızılbaş-Aleviten und gegen die „nicht-türkischen“ Kurden und Sozialisten. Millionen haben diese Brutalität tatenlos beobachtet und schließlich auch vergessen.
Erst haben die Aleviten Maraş und dann Sivas erlebt. Warum wurden die Aleviten getötet und warum sterben sie auch heute noch? Warum geht dieser Hass auch heute noch weiter?
Druck, Repressionen, Massaker, Pogrome und Genozide gegen Aleviten haben mit dem Islam begonnen und gehen auch heute noch weiter. Denn der Glaube der Kızılbaş-Aleviten ist ein vor-islamischer Natur-Glaube. Der Islam hat in allen Regionen Massaker veranstaltet, um diese Regionen zu islamisieren. Der Dschihad ist ein heiliges Mittel, um Gebiete und Gesellschaften außerhalb des Islams zum Islam zu bekehren. Die Geschichte des Osmanischen Reiches ist zugleich eine Zeit der Islamisierung der Kızılbaş-Aleviten bzw. ihrer Vernichtung. Mit der Gründung der Republik Türkei wurden neben dem Islamismus auch die Komponenten Turkismus und Rassismus hinzugefügt. So ist die Politik auch in diesem Kontext noch grausamer geworden und ist es auch heute noch. Das Pogrom von Koçgiri (1921), der Genozid von Dersim Tertelesi (1937/38), die Pogrome von Maraş (1978), Çorum (1980), das Massaker von Sivas (1993) usw. Wenn Sie alles analysieren, erkennen Sie ohne große Mühe, dass es systematische politische Maßnahmen des Staates sind. Weil es mit dieser islamistischen und turkistischen Vergangenheit keine Abrechnung gegeben hat, setzt sich dies als eine Staats- und Bevölkerungsideologie fort.
Heute ist Maraş mit einem speziellen Eis und dem Namenszusatz „Kahraman“ (türkisch für Held) bekannt. Wem hat die Stadt diese PR-Arbeit zu verdanken?
Selbstverständlich ist Maraş als Region niedlich und schön, dagegen habe ich nichts einzuwenden. Aber mit sozialpolitischen Ängsten gezogene Grenzen, Titulierungen in diesem Kontext und aufgebürdete Missionen finde ich persönlich problematisch und kalt. Deshalb ist dieser Namenszusatz von Maraş für mich keine sympathische Sache. Dies ist ein ideologischer und politischer Beiname. Es macht Mensch und Natur wertlos gegenüber einer gelenkten Emotion und Motivation. In der Vergangenheit haben in Maraş unterschiedliche Völker, Kulturen immer Seite an Seite zusammengelebt. Eine Instrumentalisierung, die die gemeinsame Geschichte und Kultur ignoriert und den Anfang aller Dinge mit sich selbst in Verbindung bringt und dies als „Heldentum“ bezeichnet, ist meines Erachtens nach unmoralisch und nicht gewissenhaft. Ja, Maraş wird mit einem speziellen Eis in Verbindung gebracht. Man sollte das mal recherchieren und da nachhaken. Aus welcher Kultur hat sich dieses Eis entwickelt und wessen Erbe ist es? Zunächst muss das festgestellt und entsprechend gewürdigt werden. Verzeihen Sie, ich will Sie nicht enttäuschen. Wenn Sie an Maraş denken, dann denken Sie als erstes an das Eis. Das ist das Image dieser Stadt in Ihrer Wahrnehmung. Leider denken ich oder Millionen andere bei Maraş an ein Massaker und an Schmerz. Also kann des einen „Held“ des anderen „Henker“ sein. Dies ist ein äußerst verstrickter und krankhafter Zustand, über den es sich lohnt, tiefergehend nachzudenken.
Die Türkei hat mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte Probleme. Ist das ein Problem der Republik oder hat es das auch vor der Gründung der Republik gegeben?
Leider hat die Türkei aufgrund der Probleme bei der Reflexion mit der eigenen Vergangenheit auch strukturelle Schwierigkeiten eine demokratische Zukunft zu errichten. Wie eingangs erwähnt, gibt es hier zwei Probleme: Das erste Problem ist mit der Religion verbunden. Selbstverständlich ist der Glaube einer Bevölkerung wertvoll. Ich verteidige das Recht auf Religionsfreiheit als eines der wichtigen Grundrechte in Demokratien. Aber mit Blick auf die islamischen Länder – sei es in Bezug auf den Lifestyle oder im Hinblick auf die Regierungsformen – sehe ich auch die Religion als einen Grund dafür, dass sie nicht wirklich demokratisch sind. Sie können mit den Werten des 6.-7. oder des 15. Jahrhunderts nicht im 21. Jahrhundert leben. Wenn Sie einmal zurückblicken, hat dieser islamistische Blick alle Religionen dieser Gebiete vernichtet, ihre Heimat, ihre religiösen Zentren und ihre religiösen Symbole weggeworfen.
Zweitens: Rassismus. Wenn Sie einen Staat oder eine Staatsangehörigkeit auf eine einzige Rasse aufbauen, dann wird das Regime unweigerlich faschistisch sein. Die Republik Türkei ist auf die türkische Ethnie und auf die türkisch-islamische Synthese aufgebaut. Dabei wurden historische Völker dieser Region wie die Armenier, Griechen, Assyrer und Jesiden durch Genozide vernichtet. Dieser Staat wurde durch Plünderung ihrer Schätze und Vermögen errichtet. Wenn man mal einen Blick auf die sehr reichen Familien und ihre Vermögensbildung wirft, dann kann man das erkennen. Man kann von Staaten, die an Eroberung und Plünderung festhalten, keine Demokratie erwarten. Weil rassistische und religiös-extreme Gesellschaften und Regierungen von Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Menschenrechten entfernt sind, kann man von ihnen auch keine Reflexion erwarten. Ohne eine grundlegende Veränderung in diesen Punkten wird das auch nicht möglich sein. Wenn heute noch das Hitler Regime oder ihre Fortsetzung in Deutschland regieren würde, hätte es auch hier keine Abrechnung mit der eigenen Nazi-Vergangenheit gegeben. Die Türkei ist ein Land der Pogrome und Genozide. Die Täter mit religiös- und nationalistisch-extremistischer Ideologie sind heute noch an der Regierung und sie konnten nicht besiegt oder verändert werden. Folgendes will ich unterstreichen: So schuldig die türkische Regierung aufgrund dieses Grauens-Mechanismus ist, so viel Schuld trifft auch die türkische und die islamische Bevölkerung. Denn sämtliche Gräueltaten wurden für die „türkische“ und „islamische“ Identität der Bevölkerung begangen. Leider hat ein Großteil der Bevölkerung dagegen nie protestiert. Solange sind sie auch mitschuldig.
In der vergangenen Woche hat die türkische Oppositionspartei CHP die „Ülkücüs“, also die Grauen Wölfe besucht. Das war wie eine Ohrfeige für die alevitische Bevölkerung. Warum ist das passiert? War das Wahlversprechen des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu „Alles wird gut“ aus Sicht der Aleviten eine Lüge?
Eines möchte ich erstmal klarstellen. Die CHP ist die Gründerpartei der türkischen Republik, dessen rassistische und religiöse Krankheiten ich zuvor beschrieben habe. Sie ist Teil der repressiven Staatsform, die die eigene Bevölkerung an Demokratie, Gleichheit und Freiheit verhindert. Selbst wenn es einen politischen Unterschied zu den Grauen Wölfen gibt, nähren sie sich ebenfalls von der Ideologie des türkischen Faschismus. Wenn es um die Interessen des Staates geht, sind die Reflexe der CHP am stärksten ausgeprägt. In letzter Zeit gab es nach den Drohungen durch den Mafiaboss Alaattin Çakıcı in Richtung des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu eine gewisse Skepsis in der Partei. Dass manche CHP-Politiker Mitgliedern der HDP nahestanden, hat im Staat und in rassistischen Kreisen für Unmut gesorgt. Deshalb sehe ich den Besuch des Hauses von MHP-Gründer Alparslan Türkeş als eine Anbiederung an den Staat. Man sollte sich auch daran erinnern, dass bei dem Genozid von Dersim Tertelesi und auch beim Pogrom von Maraş die CHP an der Regierung war. Haben sie sich dafür jemals entschuldigt? Im Gegenteil, sie haben sich fest an die Ideologie geklammert, die Völker und die Kulturen für den Staat zu unterdrücken. Natürlich gibt es hier auch Probleme bei der alevitischen Community. Aus Angst vor der islamistischen Politik sehen sie in der CHP einen Retter. Ich finde das nicht richtig, kann sie aber auch verstehen. Für manche elitären Kemalisten und Laizisten kann einiges nett erscheinen. Aber für die unterdrückten ethnischen Identitäten und Sozialisten wird sich kaum etwas ändern. Aber es sei erwähnt, dass diese Kleinigkeiten gegenüber der jetzigen Diktatur nicht sonderlich unwichtig sind.
Die AKP-Regierung will sich den Aleviten gegenüber „öffnen“. Das wird aber von den Aleviten eher abgelehnt. Was passiert hier? Wie sehen Sie das, als eine Person, die sich in beiden Ländern aufgehalten hat?
In der Türkei kann man nicht von einer „Öffnung“ sprechen. Das wäre nicht korrekt. Im Gegenteil werden sämtliche demokratischen Rechte und die Forderung nach Freiheit durch Repressionen verhindert. Aleviten, Kurden, Frauen, Personen aus dem LGBT-Spektrum, Sozialisten, Liberale und andersdenkende islamische Gruppen stehen unter Druck und leiden. Rund 400.000 Personen befinden sich in türkischen Gefängnissen. Die Türkei ist gegenwärtig ein offener Knast.
Arbeiten Sie derzeit an einem Film-Projekt?
Als ein Regisseur und Produzent sehe ich überall, wo ich mich befinde, sämtliche Ereignisse aus einem dokumentarischen Blickwinkel. Aber leider haben wir nicht jederzeit die Möglichkeit, unsere Ideen umzusetzen. Derzeit versuche ich meine halben Film- und Buchprojekte abzuschließen. Ich versuche mich in Europa auf meine neuen Themen festzulegen.