Was fehlt, ist eine antirassistische Gesamtstrategie
Die Erwartungen an den im März 2020 gegründeten Kabinettsausschuss der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus waren groß. Warum der vorgelegte Maßnahmenkatalog hinter den Erwartungen zurückbleibt und wie stattdesssen eine antirassistische Gesamstrategie für die plurale Einwanderungsgesellschaft aussehen könnte, kommentiert die migrationspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion Filiz Polat.
Rassismus ist für viele Menschen in Deutschland bittere Realität. Rassismus ist tief in unseren Institutionen und Strukturen verankert und verbreitet. Schon Kinder müssen aufgrund ihres Äußeren, ihrer Namen und den damit verknüpften rassistischen Stereotypen schmerzlich erfahren, dass Rassismus ihr ständiger Begleiter ist – sei es in der Kita, auf der Schulbank oder später in Ausbildung oder Studium, auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Rassismus behindert, grenzt aus, verletzt und verhindert damit ein friedliches und chancengerechtes Zusammenleben.
Rassismus ist eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben und findet seinen furchtbaren Ausdruck auch in einer Vielzahl rassistisch motivierter Gewalttaten und Anschläge in Deutschland über die letzten Jahrzehnte. Erst der Mord an Walter Lübcke und in kurzer Zeitfolge das Attentat in Halle und schließlich der Anschlag am 19. Februar in Hanau, der neun Menschen aus rassistischen Motiven das Leben kostete, hat den Handlungsdruck auf die Bundesregierung erheblich erhöht. „Deutschland hat ein Rassismusproblem“ - diese Erkenntnis war erstmalig so oft und so breit zu hören wie nie zuvor - auch durch Bundesinnenminister Horst Seehofer.
Die Bundesregierung war gezwungen zu reagieren. Deshalb wurde im Mai 2020 der Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingesetzt, der bis Oktober einen ausführlichen Maßnahmenkatalog vorlegen sollte. Der Kabinettsausschuss setzte sich ambitionierte Ziele: Das Bewusstsein für Rassismus solle als gesamtgesellschaftliches Problem geschärft werden und staatliche Strukturen geschaffen, die Betroffene vor Diskriminierungen schützen. Auch die „Anerkennung und Wertschätzung einer vielfältigen und chancengerechten Gesellschaft und Stärkung gleicher Teilhabechancen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ wurde als eines der zentralen Ziele formuliert.
„Für uns – die Menschen, die von Rassismus betroffen sind – ist es überlebensnotwendig, dass dieser Kabinettsausschuss hervorragende Arbeit leistet und seine Ziele erreicht. Für Deutschland bietet er die Chance für ein neues Kapitel auf dem Weg in eine vielfältige, rassismus- und diskriminierungsfreie Gesellschaft, die gemeinsam am Zusammenhalt arbeitet und den Werten des Grundgesetzes Geltung verschafft .“ So formulierte die Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen ihre Erwartungen, aber auch Hoffnungen an den Kabinettsausschuss und unterstrich die Dringlichkeit konsequenten Handelns von Seiten der Bundesregierung. Und auch der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland begrüßte die Einsetzung und unterstrich gleichzeitig, dass „ein wirksames Maßnahmenpaket mit klaren und überprüfbaren Zielen“ notwendig sei, das „[im] Sinne eines ‚lernenden Konzepts‘ […] regelmäßig gemeinsam mit Zivilgesellschaft und Wissenschaft auf seine Wirksamkeit geprüft und weiterentwickelt“ werde. Die Erwartungen waren eindeutig und die Hoffnungen, dass mit dem Kabinettausschuss endlich der lange geforderte politische Paradigmenwechsel vollzogen würde, groß.
Welche Maßnahmen im Kampf gegen Rassismus und für eine antirassistische Einwanderungsgesellschaft notwendig sind, hat zuletzt der Begleitausschuss der Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen im Sommer 2020 in einer eigenen „Antirassismus Agenda 2025“ detailliert ausbuchstabiert. Daran muss sich der Maßnahmenkatalog der Bundesregierung genauso messen lassen, wie an den selbst gesetzten Zielen.
89 Vorhaben – effektive Maßnahmen für eine antirassistische Einwanderungsgesellschaft?
Die Einrichtung des Kabinettsausschusses ist sicherlich ein Meilenstein und ein wichtiges Signal an Menschen mit Rassismuserfahrung gewesen. Doch bereits die Frage, ob die Bekämpfung von Rassismus neben Rechtsextremismus sowohl in Titel und Arbeitsauftrag des Kabinettsausschusses aufgenommen werden sollte, führte wie so oft zu kontroversen Debatten innerhalb der Koalition. Es wurde sich zwar letztendlich auf eine ambitionierte Zielsetzung geeinigt, doch die Kontroversen blieben, weshalb die Veröffentlichung der Maßnahmen um einen Monat verschoben werden musste. Ganz in Manier der Großen Koalition wurde zudem versucht strittige Punkte vorab abzuräumen. So einigte man sich zwar vorab zur Ersetzung des Begriffes „Rasse“ im Grundgesetz, vertagte die konkrete Ausgestaltung allerdings in eine Arbeitsgruppe unter Federführung der Bundesjustizministerin. Ähnlich verfuhr das Kabinett mit der Einigung über eine*n Rassimusbeaugftragte*n, der*die gänzlich ins Jahr 2022 verschoben wurde und entsprechend im 89 Punkte umfassenden Maßnahmenpaket gar nicht mehr auftauchte.
Insgesamt ist das Maßnahmenpaket der Bundesregierung eine Aneinanderreihung von Einzelprojekten über acht Ministerien verteilt, die weder ineinandergreifen noch strukturell wirken werden. Zu einer wirksamen Bekämpfung von Rassismus und für die Gestaltung einer antirassistischen Einwanderungsgesellschaft bedarf es einer koordinierten und kohärenten Gesamtstrategie, in der das Problemfeld intersektional bearbeitet wird. Nur so kann eine erfolgreiche antirassistische Politik gesamtgesellschaftlich Wirkung entfalten. Gesetzliche Regelungen und strukturelle Veränderungen tauchen in den 89 Maßnahmen kaum auf. Mehr Rechte für Menschen mit Rassismuserfahrung, mehr gesetzlich verbriefte Teilhabe- und Repräsentationsmöglichkeiten fehlen gänzlich.
Gemessen an den formulierten Erwartungen und Hoffnungen muss daher leider konstatiert werden, dass diese Bundesregierung keine Vision für die Gestaltung einer antirassistischen und chancengerechten Einwanderungsgesellschaft hat.
Rassismus erkennen, benennen, bekämpfen
Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Annette Widmann-Mauz formulierte einen Dreiklang: „Rassismus erkennen, benennen, bekämpfen“. Allerdings wird die Bundesregierung in ihrem Maßnahmenpaket diesem Dreiklang nicht konsequent gerecht.
Um Rassismus zu erkennen und zu benennen, braucht es neben der aktiven Einbeziehung der Perspektive und Expertise der (post-)migrantischen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, eine umfassende empirische Datengrundlage über die Lebensrealitäten von Menschen mit Rassismuserfahrung in Deutschland, die nicht auf undifferenzierten Fremdzuschreibungen basiert. Es ist daher zu begrüßen, dass die Bundesregierung ihr Wissens- und Kompetenzdefizit im Bereich Rassismus erkannt hat und im Maßnahmenpaket mit diversen Studien und Forschung in Federführung der verschiedenen Ministerien versucht gegenzusteuern. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ist beispielsweise mit einer wissenschaftliche Studie über drei Jahre zur Bestandsaufnahme und Ausgestaltung einer Diversitätsstrategie in Bundesbehörden am Beispiel des Ministeriums selbst dabei. Außerdem mit einem Rassismus- und Antidiskriminierungsmonitor, der durch das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) dauerhaft erstellt werden soll. Das Bundesjustizministerium mit einer Studie zu den in § 46 Abs. 2 S. 2 Strafgesetzbuch benannten Strafzumessungsumständen, um eine Hilfestellung für Gerichte und Staatsanwaltschaften bei der Norm zu bieten. Und das originär zuständige Bundesforschungsministerium, welches mit nur einer Maßnahme im Katalog insgesamt mit dabei ist, will insgesamt die Forschungsförderung zu Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ausbauen und für die Verbesserung der Forschungsdateninfrastruktur sorgen.
Das Bundesinnenministerium wird eine Forschungsförderung für den Bereich Islam-/Muslimfeindlichkeit auf den Weg bringen. Allerdings bleibt es die wohl am meisten geforderte und diskutierte Studie zu strukturellem Rassismus in der Polizei schuldig. Stattdessen trägt der Innenminister ein Forschungsprojekt zum Polizeialltag bei, das allerdings eine Untersuchung von Racial Profiling und Rassismus innerhalb der Sicherheitsbehörden komplett ausklammert. Ein fatales Signal, welches aber exemplarisch die Lücke bei den genannten Forschungsvorhaben offenbart, sich selbstkritisch mit den eigenen staatlichen, rassistisch wirkenden Strukturen auseinanderzusetzen.
Insgesamt nimmt die Bundesregierung scheinbar für den Maßnahmenkatalog verhältnismäßig viel Geld in die Hand – eine Milliarde Euro über die nächsten vier Jahre. Wo genau im Bundeshaushalt 2021 bereits Mittel eingeplant sind, konnte die Exekutive dem Parlament bisher allerdings nicht transparent darstellen. Nur das mehr als die Hälfte in das Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ fließen sollen. Im Finanzplan 2021-2024 der Bundesregierung ist von dieser Höhe aber nichts zu lesen.
Strukturelle Probleme mit strukturellen Antworten lösen – die grüne Antirassismus-Agenda
Rassismus ist ein tief in unserer Gesellschaft, ihren Strukturen und Institutionen verwurzeltes Problem. Es muss klar sein: Struktureller Rassismus lässt sich nur mit strukturellen Maßnahmen konsequent und vor allem nachhaltig bekämpfen. Dafür hat die grüne Bundestagsfraktion eine ressortübergreifende Antirassismus-Agenda vorgelegt, die sowohl gesellschafts- und sicherheitspolitische Maßnahmen aufzeigt und auf strukturelle Probleme strukturelle Antworten gibt.
Es reicht nicht aus, nach jeder schrecklichen rassistischen Gewalttat Betroffenheit zu zeigen, seine Profilbilder zu ändern, für einen kurzen Zeitraum Raum in Medien und politischen Debatten zu schaffen, wenn sich danach faktisch kaum etwas ändert – sei es in der Sprache, sei es in Strukturen, sei in der Politik. Zwar sind wir heute gesellschaftlich glücklicherweise ein Stück weiter als in den 1990er Jahren. Nach dem schrecklichen Anschlag 1993 in Mölln erschien der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht einmal zur Gedenkveranstaltung und begründete seine Absage damit, es würde sich nur um „Beileidstourismus“ handeln. Unsere Ansprüche sollten heute aber auch deutlich andere sein. Wir müssen weiterhin dafür kämpfen, dass alle mit am Tisch sitzen, mitreden und mitbestimmen können. Diskriminierungsschutz, Repräsentation und Stärkung der Zivilgesellschaft müssen zentrale Pfeiler für eine Antirassismuspolitik im 21. Jahrhundert sein.
Es braucht einen fortlaufenden gesellschaftlichen Diskurs über unsere Einwanderungsgesellschaft und deren antirassistische Ausgestaltung. Dieser Diskurs sollte durch die Schaffung eines "Partizipationsrats Einwanderungsgesellschaft" vorangetrieben werden und als unabhängiges Gremium mit Vertreter*innen aus der (post-)migrantischen Zivilgesellschaft, sowie Wissenschaft und Forschung besetzt und gesetzlich verankert werden, ähnlich dem Deutschen Ethikrat. Dass bis heute keine Arbeitsdefinition der Bundesregierung für alle Rassismen in ihren Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen besteht, zeigt die Notwendigkeit beratender Expertise.
Eine antirassistische Einwanderungsgesellschaft ist auf einen effektiven Diskriminierungsschutz angewiesen. Um dem Anspruch, Diskriminierung effektiv zu bekämpfen, gerecht werden zu können, muss das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nach 15 Jahren endlich reformiert werden. Dafür müssen die bestehenden Schutzlücken im privaten und öffentlichen Bereich geschlossen werden und ein umfassendes Verbandsklagerecht eingeführt werden. Wir brauchen ein AGG, das Betroffene in der Durchsetzung ihrer Rechte wirkungsvoll unterstützt und echten Rechtsschutz gewährleistet. Zudem braucht es einen niedrigschwelligen Zugang zu Beratungsangeboten und zwar für alle. Deshalb muss endlich ein flächendeckendes Netz von qualifizierten und unabhängigen Melde- und Beratungsstellen deutschlandweit sichergestellt und entsprechend ausgebaut werden. Ein wichtiger Baustein für einen effektiven Diskriminierungsschutz ist außerdem eine finanziell und personell besser ausgestatte Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS). Deshalb soll die ADS aufgewertet und als eine oberste Bundesbehörde errichtet werden, um ihre Bedeutung und ihre Unabhängigkeit zu stärken.
Zivilgesellschaftliche Arbeit, die sich gegen Rassismus und für unsere plurale Demokratie einsetzt, muss strukturell und finanziell nachhaltig gefördert werden. Es braucht deshalb endlich ein Demokratiefördergesetz auf Bundesebene, das diesen Namen auch verdient. Dabei soll sichergestellt sein, dass die Unabhängigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements nicht ausgehöhlt wird. Außerdem muss das Gemeinnützigkeitsrecht dringend reformiert werden, um die Rechtssicherheit und Gleichbehandlung verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteure bei gemeinnützigem bürgerschaftlichem Engagement gegen Rassismus, für Grund- und Menschenrechte und unsere Demokratie zu garantieren.
Die Ausgestaltung der antirassistischen und chancengerechten Einwanderungsgesellschaft kann nur funktionieren, wenn die Gleichstellung aller Menschen im Land auf eine gesetzliche Grundlage gestellt ist. Hier ist die Bundesregierung bedauerlicherweise blank, keine Vision, keine verbindliche Maßnahme.
Ein Teilhabe- und Partizipationsgesetz auf Bundesebene zur Sicherstellung der rechtlichen Gleichbehandlung und gesellschaftlichen und politischen Teilhabe und Beteiligung wären dafür ein guter Anfang. Damit könnte eine diversitätsorientierte Öffnung von Institutionen gesetzlich festgeschrieben und endlich vorangetrieben werden. Um Repräsentation zu garantieren, fordern wir zudem eine Reform des Bundesgremienbesetzungsgesetzes. Nicht zuletzt muss mindestens auf kommunaler Ebene das Wahlrecht für Ausländer*innen endlich ermöglicht und statt weiteren Einschränkungen im Staatsangehörigkeitsrecht braucht es 20 Jahre nach der großen Reform unter Rot-Grün eine zeitgemäße Weiterentwicklung. Das wäre der Kern einer Einbürgerungsoffensive, die wirklich zum Ziel hat, dass Ausländer*innen zu Deutschen werden und sich auch sicher sein können, es bleiben zu können.
„Einheit in Vielfalt“ sollte nicht nur unser Anspruch sein, sondern als gesamtstaatliche Aufgabe verstanden werden, die gesetzlich verankert werden muss. Es geht dabei um nicht weniger als die Anerkennung und Wertschätzung einer vielfältigen und chancengerechten Gesellschaft und die Schaffung gleicher Teilhabechancen für Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
Gemeinsam Vielfalt gestalten
Der Kabinettsausschuss war für Menschen mit Rassismuserfahrung von historischer Bedeutung. Doch damit ist es bei weitem nicht getan. Einzelne Maßnahmen mögen gut und richtig sein, ebenso wie die zusätzliche finanzielle Förderung. Wir brauchen aber mehr als Einzelmaßnahmen. Es braucht endlich eine umfassende, gesamtstaatliche Strategie, die strukturell etwas ändert. Letztendlich haben die Debatten rund um den Kabinettsausschuss uns nochmal vor Augen geführt, dass Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit tatsächlich noch sehr tief in unserer Gesellschaft, ihren Strukturen und Institutionen verwurzelt sind.
Die eindrücklichen Worte von Semiya Şimşek, deren Vater das erste Mordopfer des NSU war, sollten uns alle Mahnung und Auftrag sein: „Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein.“ Es haben seitdem zu viele weitere Menschen ihre Familienangehörigen und Freund*innen verloren. Deshalb ist es umso mehr unsere Pflicht als gesamte Gesellschaft ein Versprechen abzugeben, ein Versprechen an Semiya Şimşek, ein Versprechen an die Menschen in unserer Gesellschaft, deren Leben von Rassismus bedroht ist, dass wir alles, was erforderlich, notwendig und möglich ist, unternehmen werden, damit Rassismus nicht weiter selbstbestimmtes Leben behindern und verhindern kann. Lasst uns den Aufbruch in eine rassismuskritische und chancengerechte Einwanderungsgesellschaft wagen. Lasst uns gemeinsam Vielfalt gestalten.