Bundeslandwirtschaftsminister stößt Debatte an: Özdemir fordert Trennung von Asyl- und Arbeitsmigration

                 Artikel von Philipp Blanke/ Tagesspiegerl
Mit deutlichen Worten äußert sich der Grünen-Agrarminister zur Migration. Er appelliert an alle demokratischen Kräfte. Besonders Erfahrungen, die seine Tochter machte, bekümmern ihn.
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                                      Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, spricht im Bundestag. © Foto: dpa/Hannes P Albert
 

Die Überschriften waren teils reißerisch: „Özdemir sorgt sich um seine Tochter: „Unangenehm begafft und sexualisiert““ titelte der Focus. „Özdemir fordert ehrliche Debatte über Migration“ hieß es moderater beim Spiegel. Anderswo hieß es „Özdemir rechnet mit Asyl-Politik ab“ oder „Tochter von Cem Özdemir „von Männern mit Migrationshintergrund sexualisiert“.

Der Bundeslandwirtschaftsminister fordert in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ seine eigene Partei (Grüne), aber auch das von ihm sogenannte „liberal-progressive Lager“ auf, sich einer ehrlichen Debatte über die Migration zu stellen.

Özdemir Worte haben Sprengkraft. Als Kind türkischer Gastarbeiter in Baden-Württemberg geboren und seit Jahren einer der prominentesten Grünen-Politiker im Bund, stand insbesondere seine Karriere auch oft stellvertretend für die Aufstiege und Aufstiegsmöglichkeiten der sogenannten migrantischen Generation in Deutschland.

Özdemir ist besorgt wegen Erfahrungen seiner Tochter

Özdemir geht auf seine Geschichte und seine eingewanderten Eltern. „Sie schätzten deutsche Tugenden und die Verlässlichkeit des demokratischen Systems. Baden-Württemberg war längst unsere Heimat“, schreibt der 58-Jährige. Der Minister betont, erschreibe den Gastartikel nicht nur als Politiker, auch als Vater.

Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir über Erfahrungen, die seine Tochter in Berlin machen musste

„Während gerade die junge Generation gut begründete Sorgen haben müsste, Sorgen um das Erstarken autoritärer Kräfte, Kriege, Bürgerkriege und Unterdrückung, Klimakrise und Artensterben, dominiert gerade ein ganz anderes Thema die Debatten nicht nur bei uns im Land“, schreibt Özdemir. „Deshalb müssen wir das Thema Migration dringend angehen, damit eine Debatte über andere dringende Themen überhaupt erst wieder möglich wird. Und zwar in zwei Richtungen: reguläre und irreguläre Migration trennen. Politisches Asyl und Zuwanderung auseinanderhalten. Der Kompass ist verrutscht. Zeit, ihn wieder richtig einzustellen“, heißt es weiter.

Özdemir besorgen zudem Erfahrungen, die seine Tochter nicht nur beim Urlaub mit Freunden an der Ostsee (rassistische Beleidigungen), sondern auch regelmäßig in Berlin machen musste: „Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.“

Seine Tochter sei enttäuscht, dass das Grundproblem dahinter nicht offensiver thematisiert werde: „die patriarchalen Strukturen und die Rolle der Frau in vielen islamisch geprägten Ländern.“ Özdemir macht klar: „Ich kann die Erfahrungen meiner Tochter nicht ignorieren. Als Vater will ich es nicht, als Politiker darf ich es nicht.

Die Angst vor Instrumentalisierungen einer Debatte durch die AfD und andere rechtsextreme Kreise dürfe die Debatte jedoch nicht verhindern, schreibt Özdemir: „Ich bin davon überzeugt, dass es der AfD am meisten nützt, wenn real existierende Probleme, die diese Rechtsextremisten politisch ausbeuten wollen, von uns aus Angst und falscher Rücksichtnahme gar nicht erst thematisiert werden.“

Asylpraxis ist zu einem Recht des Stärkeren geworden

Es sei an der Zeit, sich einzugestehen, dass sich die Asylpraxis des vergangenen Jahrzehnts immer mehr zu einem Recht des Stärkeren entwickelt habe, schreibt Özdemir. „Es kommen eben gerade nicht nur die Verletzlichsten und Schutzbedürftigsten aus den Krisengebieten der Welt, sondern in ganz überwiegender Zahl die Stärkeren, das heißt junge Männer.“ Diese Entwicklung würde zunehmend die Akzeptanz für das Grundrecht auf Asyl aushöhlen und zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen führen, ist Özdemir überzeugt.

Wir müssen eine klare Grenze ziehen zwischen denen, die uns brauchen (Asylpolitik), und Menschen, die wir brauchen (Fachkräftezuwanderung).

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir

Özdemir plädiert für „mehr Konsequenz bei der Identitätsfeststellung, mehr Härte und Sanktionen bei Straftaten, weniger Nachsicht in der Präventionsarbeit – denn jede Straftat, die sich in dieses Schema fügt, kostet Vertrauen.“ Die Realität eines Einwanderungslandes sei lange konsequent ausgeblendet worden, bemängelt der Minister und fügt hinzu: „Diese Ignoranz hat nicht nur den Zusammenhalt unseres Landes gefährdet, sondern auch unseren Wohlstand und die Produktivität.“

In seinem Fazit spricht sich Özdemir für eine klare Differenzierung bei der Migration aus: „Wir müssen eine klare Grenze ziehen zwischen denen, die uns brauchen (Asylpolitik), und Menschen, die wir brauchen (Fachkräftezuwanderung). Asyl und Arbeitsmigration müssen getrennt werden. Und für beides müssen wir die jeweiligen Spielregeln klarer definieren, mutiger vorantreiben und selbstbewusst vertreten. Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, ist willkommen. Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für alle anderen haben wir keinen Platz.“

Die Demokratie in Deutschland sei nicht nur unter Stress, sondern werde „akut angegriffen“, schreibt Özdemir. „Viel zu lange haben wir auf die vermeintliche Sonderrolle Deutschlands vertraut, die eine tiefe Resilienz gegen Demokratiefeinde aus den Erfahrungen zweier Diktaturen ableitete.“ Diese Sonderrolle gebe es allerdings nicht. Spätestens bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 müssten demokratische Kräfte das „Vertrauen der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in die Problemlösungskompetenz unseres demokratischen Gemeinwesens“ zurückgewinnen – sonst gerate etwas dauerhaft ins Rutschen.