Radikalisierung in Deutschland wächst - Sozialforscher stellt dar, wieso es heute so viel Hass und Extremismus gibt

                                                             Artikel von Von FOCUS-online-Experte Andreas Herteux
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Hamburg im Mai 2024: Polizisten rangeln mit Teilnehmern einer Pro-palästinensischen Demonstration. Mehrere hundert Menschen nahmen an der Demonstration teil. Str/dpa

 

Die Tendenz zu radikalisiertem Hass ist ein Phänomen unserer Zeit, und er scheint nicht nur im Netz stetig zuzunehmen. Sozialforscher Andreas Herteux befasst sich mit dem Phänomen und sieht unruhige Zeiten auf uns zukommen.

Wieso haben Hass und Radikalisierung so zugenommen? 

Wir erleben im Moment einen globalen Zeitenwandel und dieser wirkt sich auch auf den einzelnen Menschen aus. Das macht die Welt komplizierter, denn gewohnte Strukturen zerbrechen, einstige Selbstverständlichkeiten werden negiert und neue Wirklichkeiten geschaffen.

Aufgrund des Drucks zersplittert die Gesellschaft in viele kleine soziale Milieus, und ein gigantischer Trend zur Individualisierung wurde angestoßen. Viele dieser Lebenswirklichkeiten haben ureigene Vorstellungen von Normen, Verhaltensweisen und Vorstellungen eines guten Lebens, und das führt zu Streitigkeiten, sogenannten Milieukämpfen, untereinander und trägt zur Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts weiter bei.

Dieser Umstand produziert eine neue Unsicherheit, die wiederum auf die grundsätzlichen Risikofaktoren der Radikalisierung trifft bzw. diese in Einzelfällen noch potenziert.

Welches sind die klassischen Risikofaktoren für eine Radikalisierung? 

Radikalisierung ist ein komplexer Prozess, der von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, die sich oft auch noch stetig gegenseitig dynamisieren. Klassische Risikoelemente sind dabei unter anderem:

  • Entwurzelung, Sinnsuche und Identitätskrisen
  • Marginalisierung der persönlichen Lebensweise und Überzeugungen
  • Politische und wirtschaftliche Instabilität
  • Negative Lebenserfahrungen
  • Soziale Isolation sowie Ausgrenzung
  • Negative Beeinflussung durch das Umfeld
  • Mediale Manipulation
  • Psychische Gesundheitsprobleme

Diese Risikofaktoren werden nun, wie bereits angedeutet, durch den Zeitenwandel dynamisiert und erhöhen damit letztendlich auch das Radikalisierungspotenzial. Der Boden ist daher weitaus fruchtbarer als zuvor. Ob die Saat auf Dauer auch aufgehen wird, hängt letztendlich davon ab, ob entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Welche Rolle spielt das Internet dabei? 

Der technologische Fortschritt ist ein wesentlicher Aspekt des Zeitenwandels, und die digitale Welt bleibt einer der größten Beeinflussungsfaktoren unserer Zeit.

Um nicht bei den üblichen Floskeln zu landen, ist es nötig, etwas auszuholen. Das Schlüsselwort ist Verhaltenskapitalismus.

Das Netz ist erst einmal neutral und will diversen Formen der Radikalisierung gar keinen Vorschub leisten oder irgendwelche Risikofaktoren verstärken. Dies geschieht als Nebenprodukt einer neuen Form eines Prozesses, in dem menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Verhaltenskapitalismus ist die Betrachtung von menschlichem Verhalten als nutzbarem Rohstoff. Der Mensch wird praktisch „abgeerntet“, und aus der Ernte werden neue Produkte und Dienstleistungen erzeugt. Das alles geschieht automatisiert über die Algorithmen, manchmal schon mit Hilfe einer KI, der großen Verhaltenskapitalisten der Kategorie Google & Co.

Sie suchen auf Facebook etwas über das Bergsteigen? Die Maschine wird dieses Wissen, dieses Verhalten nutzen, um Ihnen entsprechende Angebote zu machen: Informationen, Neuigkeiten, gleichgesinnte Freunde oder Gruppen, und Sie werden womöglich in einer neuen Welt eingebettet. Es ist Ihre Wirklichkeit, die das herausarbeitet, was Ihnen wichtig erscheint.

Je mehr davon genutzt wird, desto mehr werden Sie „abgeschöpft“. Verhalten wird zu einem Produktionsfaktor, der eine ganz neue Spielart des Kapitalismus ermöglicht, den es vorher in der Geschichte so noch nicht gab. Von diesen Mechanismen bekommt der Nutzer in der Regel aber wenig mit, obwohl es sich mittlerweile um einen Billionen-Markt, davon entfallen allein ca. 800 Milliarden Euro auf den digitalen Werbebereich, handelt, aber das ist tatsächlich auch ein anderes Thema.

Ist dieses Vorgehen nicht manipulierend, auch, wenn es eigentlich nur gewinnorientierend ist? 

Ob man nun als Individuum indirekt doch manipuliert wird? Eine schwierige Frage und ein Balanceakt, denn die Einbettung kann auch hilfreich sein, sich und die eigenen Bedürfnisse erst kennenzulernen. Wo Licht ist, ist gemeinhin auch Schatten.

Sicher ist allerdings; die Frage mag beim Thema Klettern auf die höchsten Gipfel noch belanglos sein, bei den großen Fragen der Gesellschaft oder Politik kann es jedoch durchaus problematisch werden, denn diese werden den gleichen Prinzipien unterworfen. Die Marktlogik hat keinen moralischen Kompass. Es geht um eine Aberntung des Rohstoffes Verhalten.

Wen wundert es allerdings, wenn sich auf diese Art und Weise bestimmte Meinungen sich noch mehr verfestigen? Werden sie nicht stetig von allen Seiten bestätigt? Sagt nicht alle im Netz, dass die eigene Denkweise die richtige ist? Gefangen im kollektiven Individualismus, erweist es sich als schwierig und auch unbequem, sich wieder zu befreien.

Für Radikalisierungsprozesse oder auch gelegentlich nur einen ordentlichen Umgang miteinander können sich besagte verhaltenskapitalistischen Abschöpfungsprozesse allerdings fatal auswirken, denn sie könnten als massive Verstärker wirken und sie besitzen zudem das Potenzial, diese nicht nur zu beschleunigen, sondern auch erst entstehen zu lassen. Mit der Etablierung von Mechanismen der künstlichen Intelligenz sollte sich das noch verschärfen, auch die sich andeutende Dezentralisierung von Kommunikationswegen macht die Prozesse weniger sichtbar.

Lässt sich diese Entwicklung noch stoppen oder umkehren? 

Der globale Zeitenwandel lässt sich ebenso wenig aufhalten wie der durch ihn bedingte technologische Fortschritt. Er hätte sich aber gestalten lassen, wenn die westliche Welt frühzeitig auf die Zeichen der Veränderung reagiert hätte. Im Besonderen in Europa und Deutschland hat man das aber nicht, und damit ist man nun den Konsequenzen erst einmal ausgeliefert.

Deindustrialisierung, abnehmende Wettbewerbsfähigkeit, schwindende globale Bedeutung, die Erhöhung des Radikalisierungspotenzials oder gesellschaftliche Streitigkeiten sind die Folge einer Entwicklung, kein Unglück, das urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht ist. Es wäre aber auch zu einfach, nun schlicht zu postulieren, dass dies der Preis dafür ist, große Debatten zu vermeiden und Zusammenhänge nicht mehr zu benennen.

Nein, die brennenden Fragen der Zeit werden oft nicht einmal mehr erkannt. Am Ende bleibt ein intellektueller Offenbarungseid, der besonders für ein Land, das einst als das der Dichter und Denker bezeichnet wurde, schmerzhaft erscheinen muss.

Die Welt mag daher Wille und Vorstellung sein, aber nur dann, wenn beides auch von Macht, Tatkraft, Stärke und Erfolg getragen wird. Letzteres schwindet dahin. Ist es daher hoffnungslos? Nein, das ist es nicht, aber fast zu spät. 

"Das mag nun fatalistisch klingen und es gibt immer Phänomene, die sich kurz- bis mittelfristig lösen lassen. Natürlich können Radikalisierungstendenzen mit Bildung und Aufklärung, soziale Integration und Teilhabe, frühzeitige Erkennung und Intervention, mit Stärkung der Gemeinschaft und Förderung von Resilienz, mit digitaler Prävention sowie politische und rechtliche Maßnahmen, entgegentreten werden, Man muss es sogar und doch wird, ganz nüchtern betrachtet, das Potential gerade größer und nicht kleiner.

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Die Frage ist aber, ob der digitale Rahmen des kollektiven Individualismus, jene verhaltenskapitalistische Mechanismen, nicht bereits viel einflussreicher sind als es jegliche Sozialprogramme sein können. Ein unterschätzter Machtfaktor, nicht selten bedeutender als Eltern, Schule, Freunde oder das soziale Umfeld. 

Denken wir in diesen Moment nicht nur an Menschen, die noch eine Offline-Wirklichkeit kennengelernt haben, sondern an jene, die von Geburt an nichts anderes erleben als eine Normalität der digitalen Beeinflussung. 

Ist der Rahmen daher vielleicht schon so durchdringend und konditionierend, und mit dieser Aussage lässt sich ein ganz großer Bogen auch jenseits der Extreme spannen, dass er gar nicht mehr kontrolliert werden kann?"