Kommentar von Andreas Herteux - In Deutschland ist vieles nicht mehr normal

                                       Geschichte von Von FOCUS-online-Experte Andreas Herteux
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                                Viele Menschen haben das Vertrauen in die etablierten Medien verloren. IMAGO/aal.photo © IMAGO/aal.photo

 

 

Deutschland hat sich verändert. Vieles, was vertraut erschien, scheint verloren gegangen zu sein. Orientierungslosigkeit und gesellschaftliche Zersplitterung sind die Folgen. Warum ist dem so? Sozialforscher Andreas Herteux analysiert Ursachen und zeigt Konsequenzen dieser Entwicklung auf.

Deutschland hat sich verändert. Das ist erst einmal nicht ungewöhnlich, denn der Wandel ist ein beständiger Teil des Lebens, der kein Individuum verschont und jeden von uns betreffen kann. Sehr oft ist dieser Prozess schleichend, auf eine gewisse Art und Weise berechenbar und gibt den Menschen häufig noch die Möglichkeit der schrittweisen Anpassung und vielleicht auch die Freiheit, sich mancher Veränderungen schlicht zu entziehen.

Nun aber erfolgt die Transformation, sei es die technologische, politische, gesellschaftliche, ökologische oder ökonomische, in einer immer größeren Geschwindigkeit. Eine, die kaum Zeit zum Atmen lässt und nicht selten auch den Rückzug ins Private erschwert. Unsere neue Zeit gibt sich dynamischer, fast rasend, und kennt in ihrer Wirkung nur noch wenige Grenzen. Das führt vielfach zu einem verständlichen Unbehagen, denn Gewohntes wird schwächer, zerbröselt, verschwindet, wird von der Flut weggeschwemmt.

Wohl nie in der Geschichte zivilisierter Völker ging eine Entwicklung schneller und dynamischer vonstatten. Zurück bleiben nicht selten Menschen, denen der stabile Anker entrissen wurde und die auf eine neue Suche zwecks Orientierung gezwungen werden. Doch was genau ist eigentlich passiert? Relativ viel und daher erscheint es sinnvoll, mit einem globalen Blick zu beginnen.

Deutschland ist kein Vorzeigeland mehr

Deutschland steht unter Druck, denn es gibt einen weltweiten Zeitenwandel, der spätestens ab Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts seine Wirkung entfaltete. Erst kaum merklich, dann immer schneller und kein noch so willensstarkes Ignorieren konnte ihn dazu verleiten, das viel gerühmte Feld zu räumen.

Aber halten wir es konkreter. Wie hat sich die Welt denn verändert? Nun, neue sowie alte Konkurrenten auf den Weltmärkten sind inzwischen wettbewerbsfähiger. Das macht Druck auf die Wirtschaft sowie auf die geopolitische Ordnung und damit letztendlich, als schwächstes Glied der Kette, auch auf den Menschen. Ob es wirklich ein asiatisches Jahrhundert wird? Ein europäisches scheint es nicht zu werden.

Bei innovativen Technologien steht man nicht mehr in der ersten Reihe und wie genau mit ihnen umzugehen ist, wie sie, man denke hier nur an die vielen neuen digitalen Varianten, die direkt das Innerste des Individuums ansprechen, sich auf den Einzelnen und dessen Persönlichkeitsentwicklung, Verhalten, Individualisierung oder Fähigkeiten auswirken, ist häufig noch nicht einmal Teil einer Debatte.

Über die sich verändernden Umweltbedingungen, an erster Stelle ist hier wohl der Klimawandel zu nennen, gibt es zumindest eine solche, allerdings scheinen an dieser Stelle Idealismus und Pragmatismus kein allzu inniges Paar zu bilden.

Die fehlenden Perspektiven für einen Teil der Weltbevölkerung, ein weiterer Trend, der mehr und mehr Konsequenzen nach sich zieht, manifestiert sich dagegen bereits unübersehbar in den allgegenwärtigen Migrationswanderungen.

Die eigene Schwäche ist nicht übersehbar

Über allem steht eine Schwäche der westlichen Welt. Ein politischer Block, der sich am Ende der Geschichte wähnte und nun doch erstaunt feststellen darf, dass das eigene System sich ebenso, man mag diesen scheinbar sozialdarwinistisch anmutenden Ausfall entschuldigen, dem Kampf ums Dasein stellen muss, wie jedes andere in der Geschichte.

Die freiheitlich-demokratische Ordnung verliert an Attraktivität und führt zur bitteren Erkenntnis, dass nicht Moral Überlegenheit schafft, sondern erst Wirtschaft, Politik und auch Militär sie aus der realpolitischen Belanglosigkeit heben. Manche Nation hat dies schneller begriffen, andere nehmen besagte Ahnung, letztendlich eine Illusion, als Grundlage für politisches Handeln. Eine der beiden Handlungsarten trifft leider auf Deutschland seit vielen Jahren zu und es nicht jene, die Hoffnung verspricht.

Das ist der große Rahmen und in der Summe wirken alle diese Herausforderungen dynamisch und sich gegenseitig beeinflussend auch auf das Land in der Mitte Europas ein.

Den Menschen wird die Sicherheit genommen

Die Folge ist Veränderung. Ein solcher Druck zerstört Sicherheiten, gibt aber auch Raum für neue Ideen. Er dekonstruiert, löst aber auch geistige Schranken. Öffnet Grenzen für progressive Elemente, aber auch für jene, die so gar nicht zur bisherigen Lebensweise mancher Zeitgenossen passen wollen. Befreit unter Umständen von traditionellen Fesseln, neigt aber auch zum Kontrollverlust. Der Wandel vernichtet Gemeinsamkeiten, stärkt dafür aber Individualismus und Selbstentfaltung. Wer sich beispielsweise fragt, und damit befassen sich viele Menschen immer wieder, wie postmaterielle Inhalte wie Identitätspolitik, Genderzentrierung oder postkoloniale Theorien über die Universitäten in den medialen und politischen Mainstream einsickern konnten, finde in diesem Vorgang eine Antwort.

Es handelt sich um eine historische Konstellation der Verschiebung globaler Machtverhältnisse und gesellschaftlicher Ordnungen, die bis tief in das Leben des Einzelnen hineingreifen. Ein Zeitenwandel, in dem die Karten neu gemischt werden.

Es ist eine Periode, die nach Steuerung verlangt, denn das Schiff befindet sich nicht im sicheren Hafen, sondern auf weiter See und im unübersehbaren Sturm.

Die Gesellschaft erodiert

Keine vernetzte Gesellschaft kann von diesem, vielleicht auch reinigendem, Unwetter unberührt bleiben und das gilt auch für die unsrige. Gespalten, polarisiert, unversöhnlich – das sind Adjektive, mit denen sie heute oft bedacht wird. Existiert sie daher überhaupt noch als eine Art Einheit?  

Die Antwort ist schon lange kein Geheimnis mehr und doch wird sie selten ausgesprochen. Besagte Gesellschaft ist, wie alle seriösen Studien zeigen, nicht einmal mehr im Ansatz homogen, sondern in viele kleine Gesellschaften zersplittert. Ob dies nun deren zehn sind, wie es bei den oft verwendeten Modellen des Sinus-Instituts der Fall ist, oder aber, wie es die hauseigene Erich von Werner Gesellschaft sieht, welche die Meinung vertritt, dass die Lebenswirklichkeiten durch verhaltenskapitalistische Einbettung im Internet längst immer weiter individualisiert wurden und damit stetig, im laufenden Prozess, zersplittern, sei dabei offengelassen. Bereits, jenes was sich untersuchen lassen, zeigen eine Heterogenität, die Kompromisse schwierig macht. Die Zeiten der großen Blöcke, die am Ende Kompromisse finden, scheint vorbei zu sein.

Und ja, wir wollen es einräumen. Beeinflussung durch digitale Konditionierungen? Individualisierung am Smartphone? Neue migrantische Lebenswelten? Überhaupt der Status quo? Diese neuen Lebenswelten sind noch nicht einmal ausreichend erfasst. Die Forschung hinkt der Dynamik und Geschwindigkeit hinterher. Wir wissen, dass alles immer weiter zersplittert, mehr leider nicht.

Es gibt keine homogene deutsche Gesellschaft

Sicher ist jedoch, dass zahlreiche Gesellschaften nebeneinander existieren und jede dieser neuen Lebenswirklichkeiten, in der Regel „Milieu“ genannt, hat eigene Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben.

Eigene Normen, individuelle Verhaltensmuster sowie abweichende Wertevorstellungen. Das gab es vielleicht in größeren Blöcken schon immer, niemals jedoch in einer solchen Vielfalt der Unterschiedlichkeit und des Individualismus. Heute ist es keine Besonderheit mehr, wenn der Nachbar in der Wohnung zur Linken ein völlig anderes Weltbild hat als der zur Rechten. Sie müssen nicht mehr kommunizieren. Jeder bleibt in seiner Welt und findet einige Gleichgesinnte. Das ist Fluch und Segen moderner Technik. Der Zwang zur Beschäftigung mit der eigenen Umwelt oder direkten Umgebung entfällt und damit auch der Druck sich in Richtung einer mutmaßlichen Normalität zu bewegen, sich den ungeschriebenen Regeln der Vergangenheit zu unterwerfen.

Bleiben wir bei den klassischen Milieus, die sich gesichert nachweisen lassen. Hedonisten, die primär Spaß und Genuss suchen, haben andere Ziele als Prekäre, bei denen es teilweise um die nächste Mahlzeit geht. Traditionelle oder Post-Materielle präferieren völlig unterschiedliche Lösungen für Probleme. Man nehme hier die Energiewende, Abschiebungen oder die Gendersprache als Stichworte. Die adaptiv-pragmatische Mitte ist viel flexibler als die alte bürgerliche Welt oder das etablierte Establishment.

Ja, es gibt Schnittmengen, aber manche Milieus sind so weit voneinander entfernt, dass der Konsens immer schwieriger zu finden ist. Wie bereits zart angedeutet; durch neue Formen der Kommunikation ist es auch nicht mehr notwendig, mit Menschen außerhalb des eigenen Spektrums tiefer in Kontakt zu treten. Manche Dinge verlernt man auch.

Einbettung und Individualisierung durch verhaltenskapitalistische Online-Handlungsabschöpfung, die berühmten Blasen, tragen ihr Übriges zur eifrigen Selbstbestätigung bei und damit auch indirekt zur verstärkten Ablehnung anderer Meinungen. Es finden sich doch genug Gleichgesinnte, wozu andere Weltansichten zur Kenntnis nehmen?

Vernachlässigung bedingt Unzufriedenheit und Milieukämpfe

Verfestigte Lebenswirklichkeiten sind es daher, die aufeinandertreffen und Milieukonflikte auslösen, die wiederum zu Milieukämpfen führen können. Hier sind die Ursachen für Spannungen unserer Zeit zu suchen.

Die Milieus treiben dabei oft keine linken und rechten Paradigmen oder gar der obsolet gewordene Klassenkampf, sondern ihre Interessen und ureigenen Wertvorstellungen. Hinzu kommt, dass manche Lebenswirklichkeit einflussreicher ist als andere und es so möglich wurde, die eigene Weltanschauung in den Vordergrund treten zu lassen. Dass man damit die Bedürfnisse ganzer Bevölkerungsgruppen auch marginalisierte sowie missachtete, hat die Milieukonflikte noch verschärft und Deutschland in den aktuellen Zustand mitgeführt.

Was ist noch normal?

Was ist demnach in so einer komplizierten Welt noch normal? Die nüchterne Antwort lautet: Das, was das jeweilige Milieu als normal empfindet.

Die Konsequenz ist, dass damit eine Situation entstanden ist, in der viele einst so selbstverständliche Elemente, die sich nicht selten einst lediglich ein- oder zweidimensional beschreiben ließen, wie z.B. der Leistungsgedanke, soziale Gerechtigkeit, Identität, Gemeinschaft oder der Wert der Arbeit nun vielfältig, teilweise mehrfach widersprüchlich definiert werden.

Dies wäre an sich nicht einmal von großer Tragik, wenn es zumindest einen großen Rahmen gäbe. Normen, Narrative und Werte, auf die sich eine Gesellschaft dauerhaft einigen kann, aber auch diesen großen Konsens, völlig gleich wie oft er auch beschworen wird, gibt es bestenfalls noch in abgeschwächter Form.

Viele Grunderzählungen, wie beispielsweise das Versprechen auf Absicherung, die Chance auf den eigenen Aufstieg aus eigener Kraft, das Gefühl der öffentliche Sicherheit, der Verfassungspatriotismus oder das Vertrauen in staatliche Institutionen, haben an Anziehungskraft verloren und scheinen auch nur begrenzt zur Realpolitik zu passen. Stattdessen dominieren Milieuinteressen, die das Gefüge weiter beschädigen.

Die großen Fragen unserer Zeit müssen dafür in den Hintergrund treten und das bereits, weil man sich nicht einmal auf sie einigen kann. Das wiederum schwächt das Land. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Nicht treiben lassen, sondern wieder steuern

Es bedarf daher einer Grundsatzdebatte, an der sich alle Milieus beteiligen müssen. Keine elitäre Diskussion, sondern eine, die jedes Leben betrifft. Es sind die elementaren Fragen, die es zu beantworten gilt: Wer sind wir? Was wollen wir? Worauf können wir uns einigen?

Es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, einen neuen Kitt. Innerhalb dieser Grundverständigung mögen die unterschiedlichen Meinungen dann im demokratischen Prozess konkurrieren, jedoch nach festen Regeln und mit der Bereitschaft zu Kompromissen.

Solange wir einen solchen nicht aus unserer Mitte hervorbringen, ist eine Befriedung der Gesellschaft nicht möglich. Einsicht muss der erste Schritt sein, der zweite wäre die Debatte. Als letztes folgt der Versuch, das eigene Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht von der Flut des Zeitenwandels hinfort spülen zu lassen. Ein schwieriger Prozess, dessen Erfolg immer unwahrscheinlicher wird, je länger wir ihn aufschieben. Warum daher nicht sofort beginnen?