Der frühere Chef der Grauen Wölfe ist vermutlich aus den eigenen Reihen ermordet worden. Der Prozess ist ein Testfall für die türkische Justiz
Der Wolfsgruss eines türkischen Fussballspielers an der Europameisterschaft hat die Grauen Wölfe international ins Scheinwerferlicht gestellt. Nach dem Ausscheiden der türkischen Mannschaft im Viertelfinale ist die hitzige Debatte zwar wieder abgeklungen. In der Türkei geben die Grauen Wölfe jedoch weiterhin zu reden. Das hat nichts mit Fussball oder dem Wolfsgruss zu tun – sondern mit dem Mord an dem früheren Vorsitzenden der Organisation.
Der damals 38-jährige Sinan Ates wurde am 30. Dezember 2022 in Ankara am helllichten Tag und auf offener Strasse erschossen. Ein Begleiter wurde von einer Kugel in der Schulter getroffen. Die türkische Polizei verhaftete darauf 13 Personen im Zusammenhang mit der Bluttat. Anfang Monat fanden die ersten Anhörungen vor Gericht statt. Der nächste Termin ist am 19. Juli.
Die Gewalttat schlug in der Türkei grosse Wellen, am meisten natürlich innerhalb der rechten Szene. Einige Sympathisanten des Opfers rasierten sich aus Protest ihren Schnurrbart ab. Der halbmondförmige, bis zu den Mundwinkeln reichende Schnauzer ist ein weiteres Erkennungszeichen im nationalistischen Milieu.
Politischer Mord oder gewöhnliche Kriminalität?
Die Witwe des Opfers, die vor Gericht mit schusssicherer Weste erschien, ist überzeugt, dass es sich um eine politische Tat handelt. Sie beschuldigte den gegenwärtigen Chef der Grauen Wölfe sowie hochrangige MHP-Politiker, den Mord in Auftrag gegeben zu haben. Tatsächlich legen mehrere Indizien einen politischen Hintergrund nahe. Die beiden Täter flohen in Wagen vom Tatort, die den Grauen Wölfen gehören sollen. Ein Politiker der Partei MHP soll einen Täter mehrere Tage in seiner Wohnung versteckt gehalten haben.
Die Grauen Wölfe sind die Jugendorganisation der Partei der Nationalen Bewegung, MHP. Seit 2015 ist die ultranationalistische Kraft Koalitionspartnerin der AK-Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Diese Regierungsbeteiligung hat wesentlich dazu beigetragen, dass rechtsextreme Symbolik in der türkischen Politik mittlerweile salonfähig ist. Prominentestes Beispiel ist der Wolfsgruss – eine Geste, bei der mit den Fingern einer Hand eine Wolfsschnauze gebildet wird. In einigen europäischen Ländern sind die Grauen Wölfe verboten, in Deutschland werden sie vom Verfassungsschutz beobachtet.
Vor Gericht behauptete der Hauptverdächtige zunächst, dass ein Streit um Geld eskaliert sei. Später sagte er, die Leibwächter des Getöteten hätten Ates versehentlich erschossen. Mit forensischen Mitteln müsste eigentlich zu klären sein, aus welcher Waffe die tödlichen Schüsse abgegeben wurden. Allerdings besteht die Sorge, dass die Politik versucht, Einfluss auf den Prozess zu nehmen. Vor Prozessbeginn wurde etwa der ermittelnde Staatsanwalt plötzlich versetzt.
Der Prozess wird deshalb auch als Testfall für die – freilich längst stark beschädigte – Unabhängigkeit der türkischen Justiz betrachtet. Der Vorsitzende der grössten Oppositionspartei, CHP, Özgür Özel, nahm deshalb persönlich am ersten Prozesstag teil.
Grabenkämpfe in der rechten Szene
Dass es im nationalistischen Milieu verfeindete Fraktionen gibt, ist bekannt. Ates, das Mordopfer, war mit seinem jugendlichen und modernen Auftreten lange Zeit eine populäre Figur der Szene. Im Jahr 2020 wurde er aber überraschend seines Postens als Chef der Grauen Wölfe enthoben. Ein Grund soll seine Ambition gewesen sein, den 76-jährigen Chef der MHP, Devlet Bahceli, zu beerben. Ausserdem pflegte er Beziehungen zu Vertretern anderer nationalistischer Parteien.
Zugetraut wird den Ultranationalisten die Tat sowieso. MHP-Politiker sind berüchtigt für die martialische Rhetorik gegenüber ihren Gegnern, externen und internen. Bei den Grauen Wölfen, der noch radikaleren Jugendorganisation, bleibt es oft nicht nur bei drohenden Worten.
Ihr blutiger Kampf gegen linke Gruppierungen in den siebziger und achtziger Jahren und später auch gegen Kurden und andere Minderheiten wurde oftmals von den Sicherheitsbehörden toleriert. Besonders im Innenministerium verfügen nationalistische Kreise traditionell über grossen Einfluss. Dieser wurde durch die Säuberungen nach dem Putschversuch von 2016 zusätzlich ausgebaut.
erbindungen zum organisierten Verbrechen
Ein offenes Geheimnis sind zudem die engen Kontakte des ultranationalistischen Milieus in die Unterwelt. Der MHP-Chef Devlet Bahceli setzte sich persönlich für die vorzeitige Haftentlassung von Alaattin Cakici, dem vielleicht berüchtigtsten türkischen Mafiaboss, ein.
Mit diesen Verstrickungen zwischen Sicherheitsbehörden, organisiertem Verbrechen und nationalistischen Gruppierungen, die in der Türkei als «derin devlet» (tiefer Staat) zusammengefasst werden, spielte auch Sedat Peker. Der Mafioso hielt im Jahr 2021 das Land während Monaten mit seinen Enthüllungen per Videobotschaft aus dem Exil in Dubai in Atem.
Die MHP streitet freilich jede Verwicklung ihrer Mitglieder in den Mord ab und bezeichnet die ganze Affäre als grosse Verschwörung, um die Regierung zu Fall zu bringen. Der stellvertretende Vorsitzende der Grauen Wölfe bedrohte auf X namentlich fünf Journalisten, die den Prozess kritisch verfolgen, mit einer Kugel. Der Tweet wurde später gelöscht.
Belastungsprobe für Regierungsallianz
All das macht die Affäre auch für Präsident Erdogan relevant. Nach der schweren Niederlage seiner Partei bei den Lokalwahlen im März gab es Mutmassungen, der Präsident könnte auf Kosten der Ultranationalisten auf gemässigtere Kräfte zugehen. Erdogan selber deutete eine «Aufweichung» der Politik an.
Für seine angestrebte Verfassungsreform, die ihm vermutlich eine weitere Amtszeit sichern soll, ist Erdogan auf Stimmen aus der Opposition angewiesen. Diese fordert unter anderem rechtsstaatliche Reformen. Im Juni besuchte Erdogan zum ersten Mal seit 18 Jahren den Hauptsitz der grössten Oppositionspartei, CHP.
Die Spekulationen über ein Ende der Allianz zwischen Erdogan und der MHP sind mittlerweile wieder verstummt. Die Ultranationalisten sind für das Machtgefüge des Regierungslagers zu wichtig. Erdogans Bemühen, die Machtbasis zu erweitern, gehen aber weiter. Ein Mordprozess, der ein fragwürdiges Licht auf den Koalitionspartner wirft und alle Stereotype des «tiefen Staates» zu bedienen scheint, ist dem nicht zuträglich.
Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die regierungsnahe Presse trotz öffentlichem Interesse kaum über den Fall berichtet. Die internationale Empörung über den Wolfsgruss und die Sperre des Spielers durch die Uefa, die sich als antitürkische Verschwörung darstellen liessen, waren da ein deutlich dankbareres Thema.