Meine Eltern kamen aus Anatolien nach NRW – ich führe heute eine Anwaltskanzlei mit siebenstelligem Umsatz
Ihre Eltern kamen einst aus der Türkei nach Deutschland. Nurdan Ertogan wuchs in NRW auf, zog Schule und Studum durch und führt mittlerweile eine Anwaltskanzlei mit siebenstelligem Umsatz.
Freizeit ist ihr gänzlich fremd. Anwältin Nurdan Ertogan ist auch abends in ihrer Kölner Kanzlei zu erreichen. Ihre Mandanten wissen das zu schätzen. Ertogans Termine sind viele Wochen im Voraus ausgebucht.
Dabei waren die Anfänge der Familie Ertogan in Deutschland bescheiden. Vater Ertogan migrierte als sogenannter Gastarbeiter in den 60er Jahren in die Kleinstadt Datteln. In der nordrhein-westfälischen Kleinstadt lebten in den 80er Jahren 36.000 Einwohner. Ertogan zufolge bildeten die circa 2000 Migranten dort eine kleine Minderheit.
Ihre Kindheit in der Kleinstadt Datteln bezeichnet Ertogan als behütet. Gemeinsam mit ihren vier Geschwistern und ihren bildungsaffinen Eltern habe sie in Harmonie mit ihren deutschen sowie migrantischen Nachbarn gelebt. Der Vater arbeitete in einer nahe liegenden Metallfabrik, die Mutter war Hausfrau. Ertogan, 1982 in Datteln geboren, habe von ihrem türkischen Vater früh gesagt bekommen: „Verdiene dir deinen goldenen Armreif“, ein anatolisches Sprichwort. Sie sollte etwas in der Hand haben, um ihre Zukunft und ihr Leben selbst zu bestreiten, erklärt Ertogan den Satz.
Ihre Familie bezeichnet Ertogan als Garant ihres Erfolgs. Früh vermittelten ihre liberalen Eltern den hohen Stellenwert von Bildung und Emanzipation. „Ehrlichkeit, Fleiß und ein gutes Herz waren für uns die zentralen Tugenden“, das sei den Eltern immer wichtig gewesen.
Für Ertogans Eltern war der Kita-Besuch der vier Kinder wichtig, damit die Kinder bei ihrer Einschulung „richtig gut“ Deutsch beherrschen. Viele gleichaltrige migrantische Kinder aus ihrer Kleinstadt hätten das nicht gekonnt, hätten die Eltern Ertogan erzählt. Ihren Eltern sei sie heute noch dankbar für deren Investition die Bildung und Zukunft von ihr und ihren Geschwistern. Die Eltern seien zu jeder Elternkonferenz gegangen, auch wenn die Lehrer ihnen erklärt hätten, dass das bei dem schulischen Erfolg ihrer Tochter nicht nötig sei.
Ich sollte nicht in die Ausländerklasse"
Bei Nurdan Ertogans Einschulung erfuhr die Sechsjährige, dass sie – anders als die anderen Migrantenkinder – nicht in die „Ausländerklasse“ gehen sollte. Heutzutage werden solche Klassen auch Willkommensklassen genannt. Mutter Ertogan ging davon aus, dass auch ihre Tochter in die sogenannte "Ausländerklasse" müsste und habe damals gefragt: „Wieso wirst du ausgegrenzt?“ Die Lehrer hätten befunden, dass Nurdan Ertogan so gut Deutsch konnte, dass sie mit den deutschen Kindern in eine Klasse sollte.
Ihre Erfolge in der Grundschule führt sie auf das Engagement ihrer Eltern und ihren frühen Kita-Besuch zurück. Den steilen Bildungsaufstieg habe sich auch nach der vierten Klasse fortgesetzt. „Fast alle migrantischen Kinder mussten zur Hauptschule. Nur wenige durften auf die Realschule und leider noch weniger auf das Gymnasium“, erinnert sie sich. „Du wirst es schaffen, du gehst aufs Gymnasium“, lauteten die Worte von Herrn Becker, Ertogans Grundschullehrer. Vielen Migrantenkindern aus Datteln sei dieser Erfolg nicht gegönnt gewesen, sagt Ertogan. Teilweise sei bei migrantischen Familien der Eindruck entstanden, der Migrationshintergrund bestimme, ob die Kinder von ihren Lehrern eine Empfehlung für den Besuch der Hauptschule oder eines Gymnasiums erhielten, erinnert sie sich.
Als Verkäuferin im Kino finanzierte Ertogan ihr Studium
Nach dem Abitur 2001 in Datteln setzte sich Ertogans steile Bildungskarriere fort. Es folgte ein Jura-Studium in Osnabrück. Ihr erstklassiger Abiturdurchschnitt habe ihr einen direkten Einstieg ohne Wartezeiten ermöglicht. Ertogan spezialisierte sich auf Zivilrecht, Verfahrungs- und Steuerrecht und auf Unternehmensrecht. 2007 schaffte sie das erste Staatsexamen, 2010 das zweite.
Wie das Gymnasium auch, sei ihr das Studium ohne größere Anstrengungen gelungen. Nebenbei jobbte sie in einem Kino und finanzierte sich so ihr Studium. 2010, im Alter von 27, gründete Ertogan in Köln ihre eigene Kanzlei. Mit der Gründung erfüllte sich Ertogan einen Kindheitswunsch: „Mit meinem Beruf habe ich meinen Antrieb verwirklicht. Schon als Kind wollte ich Gerechtigkeit schaffen“. Freundinnen von Ertogans Mutter seien schon früh auf den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn des kleinen Mädchens aufmerksam geworden. „So ein kleines Wesen, aber rechtschaffene Worte“, erinnert sie sich an die Worte der Familienfreunde.
Sind Sie Anwältin? Ich dachte, Sie sind die Sekretärin"
Die Anfänge als junge Anwältin vor Gericht erlebte Ertogan dagegen als herausfordernd. Die damals 27-Jährige sei wegen ihres Alters manches Mal nicht ernst genommen worden. In ihrer Kanzlei habe sie zu hören bekommen: „Ich würde gerne den Anwalt sprechen“. „Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie den Anwalt sprechen wollen. Möchten Sie mit der Anwältin sprechen, stehe ich Ihnen zur Verfügung“, konterte Ertogan. „Sind Sie Anwältin? Ich dachte, Sie sind die Sekretärin“, hörte sie nicht nur von einem Mandanten.
Auch vor Gericht erlebte Ertogan häufiger, dass gegnerische Anwälte Informationen zu ihrem Migrationshintergrund oder ihrem Geschlecht in den Raum warfen. „Sie wollten mich aus dem Konzept bringen“, reflektiert die Anwältin diese Einwürfe. Für sie sei damals wie heute wichtig zu zeigen: „Wenn ich im Recht bin, bin ich im Recht“. Heute stehe sie über diesen Vorurteilen und lasse sich nicht verunsichern. Für Ertogan steht heute fest: Aus allem lässt sich etwas Positives machen. Ihren Migrationshintergrund und die Verbundenheit zu den Werten ihrer Kindheit empfinde sie heute mehr denn je als Quelle der Stärke.
Ertogan gilt als Netzwerkerin und engagierte Anwältin, heißt es aus der türkischen Community in Köln. Für ihre Mandanten ist sie bis in späte Stunden erreichbar. Sie engagiert sich seit 2023 als Vizepräsidenten in der Türkisch-Deutschen-Unternehmervereinigung. Mit der bundesweit aktiven Vereinigung liegt ihr Fokus aktuell auf der Vernetzung deutsch-türkischer Unternehmerinnen und einer besseren Sichtbarkeit von Erfolgen von Gründerinnen. Mittlerweile erhalte sie regelmäßig Einladungen von anderen Unternehmernetzwerken, auch aus dem Ausland.
Mittlerweile ist Ertogan 41 Jahre alt und blickt auf eine steile Karriere und eine Berufsgeschichte voller Erfolge zurück. Sie arbeitet mit einem Team von 20 Personen – festen und freien Mitarbeitern – zusammen und generiert siebenstellige Umsätze (Business Insider erhielt Einblick in die Geschäftszahlen). Und wo will Ertogan noch hin? Sie möchte ihre Kanzlei vergrößern und gleichzeitig ihre bisherigen Netzwerktätigkeiten ausbauen. Ab 50 habe sie dann andere Ziele, sagt sie. „Ich hatte sehr viel Erfolg. Mit 50 möchte ich denen helfen, die das nicht hatten. Ab dann beschränke ich mich darauf, mich sozial zu engagieren.“