Bei der Beschwerde über junge Migranten geht ein Raunen durch die Kneipe

Geschichte von Ulrich Exner Welt
Mit einem Bürgerforum, bei dem explizit Fragen derjenigen beantwortet werden sollten, die komplett unzufrieden sind mit der etablierten Politik, versucht Stephan Weil die verhärteten Fronten ein wenig aufzubrechen. Das gelingt dem niedersächsischen Regierungschef nur zum Teil.
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Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen: „Ich sage auch Sachen, die anderen Leuten hier nicht gefallen.“ picture alliance/dpa/
Moritz Frankenberg © Bereitgestellt von WELT

 

Es war sehr viel negative Post, die Niedersachsens SPD-Chef Stephan Weil in den ersten Wochen dieses Jahres erreichte. Beschwerden über die Migrationspolitik natürlich, über die Ampel-Koalition, über die Bauernproteste, über das Heizungsgesetz immer noch, zuletzt auch noch Beschwerden über die Blockade der Länder gegen das Wachstumschancengesetz. Viel Unversöhnlichkeit, auch grobe Töne, stapelweise Unzufriedenheit.

„Überall schlechte Laune, aber wie geht es weiter?“, war deshalb das Motto eines Bürgerforums, bei dem sich Stephan Weil am Dienstagabend in Hannover den Fragen vor allem dieser Unzufriedenen stellen wollte. Mehr als 100 Kritiker waren eingeladen, immerhin knapp 50 von ihnen sind gekommen. Einige wenige schalten sich per Stream dazu.

Auch 50 Sozialdemokraten haben den Weg in die Event-Location „Nordkurve“, unweit des Niedersachsen-Stadions gefunden – zum Versuch, die gerade so losen Enden der Gesellschaft ein Stück weit zusammenzuführen. Eine Fragestunde mit einem sozialdemokratischen Regierungschef, in der vor allem Themen angesprochen werden, die sonst eher auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu hören sind. Beispiele.

„Ich bin sehr gespannt, was es zum Thema Migration zu sagen gibt. Man darf ja nicht mehr was Kritisches sagen, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden“, schildert ein Zuhörer seine Sicht der Dinge auf einem der ausliegenden Fragekärtchen.

„Der Ton macht die Musik“, antwortet Weil. „Was definitiv nicht geht, sind Beleidigungen und Drohungen. Wenn man sich einig ist, das lassen wir, aber wir reden Klartext miteinander, dann muss man das aushalten. Dafür sind wir eine Demokratie.“

Muss es erst einen elften September in Hannover, Köln, Berlin oder Brüssel geben? Wie viele Terroristen gibt es bei uns?“

Weil: „Das kann ich naturgemäß nicht sagen, genauso wenig wie ich eine Garantie abgeben kann, dass es niemals zu einem schlimmen Terrorangriff kommt.“ Allerdings, so der Sozialdemokrat, habe Deutschland in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass unsere Sicherheitsbehörden sehr gute Arbeit leisten und dass auch die internationale Zusammenarbeit klappt.

„Für Flüchtlinge gibt es alles. Und für deutsche Arbeiter und Rentner ist nichts da?“

„Wenn man sich anschaut, wie sich die deutsche Arbeitnehmerschaft zusammensetzt, muss man feststellen, dass der Anteil von Migrantinnen und Migranten so hoch ist – würde man sich den wegdenken, würde das deutsche Rentensystem überhaupt nicht mehr funktionieren. Daran wird deutlich: Wir können vieles besser machen, aber ohne Zuwanderung werden wir es nicht hinkriegen.“

Weil spricht von „unerträglichem Machoverhalten“

Ein Geflüchteter habe in Deutschland etwa ein Fünftel weniger Bezüge als Bürgergeldempfänger. „Die Politik geht da bis an die Grenze dessen, was das Verfassungsgericht erlaubt“, sagt Weil und verweist auf ein Urteil der Karlsruher Richter, nach dem Flüchtlinge Anspruch auf eine auskömmliche Versorgung haben.

Als eine Beschwerde aus dem Publikum vorgelesen wird, nach der „unser Hauptproblem die jungen Männer mit Migrationshintergrund“ seien, „die an unsere jungen Mädchen wollen“, beginnt ein Teil der sozialdemokratische Teil des Publikums in der „Nordkurve“ zu murren.

Stephan Weil stoppt die aufkommenden Proteste seiner Genossen. „Ehrlich gesagt, dieser Abend dient dazu, dass man miteinander redet, auch wenn es einem überhaupt nicht gefällt. Das muss man aushalten. Ich sage auch Sachen, die anderen Leuten hier nicht gefallen.“ Es gebe bei jungen Männern mit migrantischem Hintergrund zuweilen ein „unerträgliches Machoverhalten“. Und zwar „nicht nur in Neukölln“. Auch in Niedersachsen habe es Berichte aus Schwimmbädern gegeben, „die sind nicht mehr witzig. Unabhängig von der Haarfarbe: Sowas muss unterbunden werden.“

Die ganz großen Lösungen für die Migrationsprobleme des Landes werden an diesem Abend nicht gefunden. Aber die Reaktion auch des nicht-sozialdemokratischen Teil des Publikums, der gänzlich ohne Pöbeleien und Zwischenrufe auskommt, lässt zumindest darauf schließen, dass man Weils Versuch, auch andere Stimmen zu Wort kommen zu lassen, einen Schritt aufeinander zuzugehen, zumindest ernst nimmt.

Es werden auch andere Themen angesprochen, andere Fragen gestellt an diesem ungewöhnlichen Abend. Wie machen Sie den Lehrerberuf attraktiver? Mit höheren Gehältern, so Weil. Warum lässt das Land die Leibniz-Uni verrotten? Es fehlt an Geld für mehr Investitionen, aber verrotten lasse man Hannovers Universität dennoch nicht, sagt der Ministerpräsident. Warum will Niedersachsen dem Wachstums-Chancengesetz nicht zustimmen?

Eine Frage, bei der Weil auf die für diesen Mittwoch geplante Sitzung des Vermittlungsausschusses von Bundesrat und Bundestag verweist. Dem Gremium liege inzwischen „ein vernünftiger Kompromiss“, der gezieltere Hilfen zum Beispiel für die Bauwirtschaft vorsehe. Er sei zuversichtlich, dass Bund und Länder zu einer Einigung komme. Es wäre eine gute Nachricht unter all den schlechten, die Berliner Politik gerade liefert. Kritik an der Ampel-Regierung, auch am Bundeskanzler landet jedenfalls reichlich auf Weils Schreibtisch.

„Olaf Scholz muss endlich führen und mit den Bürgern kommunizieren. Wird das noch was?“

„Sein Problem liegt in der Dreierkonstellation“, antwortet Weil knapp. „Man muss zusammenfinden oder es klappt nicht.“

„Wieso werden Gesetze handwerklich so schlecht verabschiedet? Mir graut es immer noch vorm Heiz-Gesetz.“

„Jaaa“, sagt Weil gedehnt. „Kann ich nicht viel gegen sagen. Man kann eine Menge daraus lernen, wie man es nicht machen sollte.“

„Meine Meinung zum Ukraine-Krieg hat sich geändert. Wir stecken immer mehr Geld rein und sehen keinen Erfolg. Die Ukraine muss mit Putin einen Vertrag machen. So geht es nicht weiter. Bei der Krim haben wir uns auch nicht eingemischt.“

Das Letzte stimmt ja“, kontert Niedersachsen Regierungschef, der selbst lange Zeit viel Wert auf gute Beziehungen zu Russland gelegt hatte, „und damit fangen die Fehler schon mal an.“ Er selbst sei damals, 2014, auch nicht auf die Idee gekommen, die ganzen Verbindungen mit Russland zur Disposition zu stellen.

„Das war ein Fehler.“ Putin versuche die Grenzen zu verschieben, weil er der Stärkere sei. Das dürfe man nicht zulassen, befindet Weil. „Wenn es einen gerechten Frieden geben soll, muss zunächst die Ukraine in die Lage versetzt werden, sich glaubwürdig zu wehren. Der Frieden muss bewaffnet sein.“

Es ist die Passage dieses Abends, für die der Ministerpräsident den größten Applaus bekommt. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit für eine SPD-Veranstaltung in Hannover.