Brief aus Istanbul: Warum wir mit Afghanistan und Syrien in einer Liga spielen
Für Sie mag die Statistik, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den ersten Tagen des Jahres 2024 veröffentlicht hat, eine gewöhnliche Meldung gewesen sein. Oder ausländerfeindliches Material für die Rechtsextremen in Ihrem Land bei der Debatte um „Remigration“. Für uns, die wir in der Türkei leben, ist sie ein Grund, uns zu schämen. Wir sind Teil einer Schande, die wir nicht verursacht haben: Die Türkei ist die Nummer zwei bei den Herkunftsländern der Personen, die 2023 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Auf Platz eins stehen mit 104.000 Anträgen Syrer. 63.000 wurden von Personen aus der Türkei gestellt, gefolgt von 53.000 Afghanen. Die offiziellen Statistiken der Türkei sind nicht weniger bitter. In den letzten drei Jahren verließ mehr als eine Million Einwohner unser Land. Besonders betrüblich: Den größten Anteil bildet die Gruppe der 20- bis 29-Jährigen. Wir haben die besonders gut ausgebildeten, hoch qualifizierten jungen Menschen verloren, die doch die Zukunft eines Landes darstellen.
Die Ausgewanderten können in ihren Zielländern nicht ein Leben beginnen, das ihrer Ausbildung oder ihrer bisherigen Laufbahn entspricht. In einer Berliner Bar ist gut möglich, dass ein von der Universität in der Türkei vertriebener Akademiker Ihnen das Bier einschenkt. Und wenn Sie auf dem Wochenmarkt in Frankfurt einen Pfannkuchen erstehen, hat den womöglich ein Bauingenieur gebacken, der in der Türkei vergeblich nach Arbeit gesucht hatte. Bei uns gab es weder einen Bürgerkrieg wie in Syrien noch sind die Verhältnisse wie im mittlerweile von den Taliban regierten Afghanistan, wo die Waffen seit 1978 nicht schweigen. Warum stehen wir dennoch auf Platz zwei der BAMF-Liste? Genau umgekehrt war es in der Türkei in den Achtzigern, nachdem die Islamisten in Iran die Macht ergriffen hatten, und in den Neunzigern nach dem Zerfall der Sowjetunion. Durch Zuwanderung aus diesen Ländern kamen wir damals etwa zu Reinigungskräften mit Diplom in Genetik oder Bolschoi-Absolventinnen als Kindermädchen. Warum nun blutet die Türkei dermaßen aus, obwohl sie doch über eine, wenn auch mangelhafte, hundertjährige demokratische Tradition verfügt, Mitglied in der NATO, eine der zwanzig größten Volkswirtschaften der Welt wie auch nach wie vor EU-Anwärter ist?
Die Auswanderer haben ein paar sehr einfache Hauptgründe. Wir werden nicht mehr satt. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinn. Kein einziges Nahrungsmittel können wir noch in dem Maße konsumieren wie früher. Unser Warenkorb schrumpft bei jedem Einkauf. Aufgrund der Wirtschaftspolitik des Palastregimes ist unsere Kaufkraft im Keller. Laut Angaben der UN-Organisation für Nahrungsmittel und Landwirtschaft sind die Lebensmittelpreise 2023 weltweit um zehn Prozent gesunken. In der Türkei hingegen sind sie selbst den vom Palast manipulierten Zahlen zufolge um 72 Prozent gestiegen. Tatsächlich aber um mindestens das Doppelte. Wer das Glück hat zu arbeiten, verarmt zusehends. Und die Arbeitslosen? Fragen Sie nach denen lieber gar nicht. Im Laufe des letzten Jahres mussten 111.000 kleinere Sie glauben, das Leben sei doch sicher nicht für alle schlecht? Sie täuschen sich nicht. Erdoğan nahestehende Unternehmer vermehren ihr Vermögen weiter. In der Türkei vor Erdoğan waren Geschäftsleute stolz darauf, auf der Liste der größten Steuerzahler zu stehen. Sich unter den ersten hundert zu befinden brachte enormes Prestige ein. Wer aber dank Erdoğan reich wurde, ist darauf lieber nicht mehr stolz. Auf der letzte Woche veröffentlichten Liste der größten Steuerzahler 2022 wollten 76 von hundert Personen lieber anonym bleiben. Aus einem einfachen Grund: Sie wollen nicht, dass ihre Beziehungen zum Palast bekannt werden und warum sie auf einmal so hohe Umsätze machen. Selbstverständlich ist Erdoğans Kriegsspielzeug produzierender Schwiegersohn mit mehr als doppelt so viel Steuern wie der Inhaber des Industrieriesen mit seiner hundertjährigen Vergangenheit rein zufällig an die Spitze der Liste vorgerückt.
Das sei politisch lösbar, glauben Sie?
Doch zurück zu den Menschen, die die Türkei verlassen. Sie gehen auch, weil sie keine Wohnung finden. Erdoğan unterstützt insbesondere die Baubranche, weil sie das Instrument ist, mit dem er seine Anhänger am schnellsten reich machen kann. Bauunternehmer ziehen überall Betonblöcke hoch und begehen damit Umweltsünden. Dennoch sinkt die Quote der Wohnungseigentümer seit zehn Jahren, während sich die Zahl der Mieter erhöht hat. Die einen werden reich, die Mieten hingegen übersteigen die Einkommen der Unter- und Mittelschicht. Gehen wir einmal davon aus, dass Sie genug Geld für die Miete haben. Fühlen Sie sich aber in Ihrer Wohnung sicher? Wissenschaftler erwarten seit dem großen Erdbeben von Gölcük am Marmarameer 1999 jeden Augenblick ein schweres Beben über der Stärke von 7 in Istanbul.
Erdoğan regiert die Türkei seit 22 Jahren, letzte Woche versprach er, Istanbul auf ein solches Erdbeben vorzubereiten. Ist ein solches Versprechen zwei Monate vor den Kommunalwahlen glaubwürdig? Kaum. Vor den letzten Kommunalwahlen hatte Erdoğan etliche Hunderttausend illegal errichtete und marode Bauten gegen Geld legalisieren lassen. Und wer leitet die Organisation, die jetzt in Istanbul Vorkehrungen gegen ein Beben treffen soll? Die Person, die seinerzeit eine Siedlung genehmigt hatte, unter deren Trümmern im Februar 2023 beim Erdbeben im Südosten des Landes 1400 Menschen ihr Leben lassen mussten. Das Beben im letzten Jahr kostete über 50.000 Menschenleben. Gegen keinen einzigen Verantwortlichen in der öffentlichen Verwaltung wurde Anklage erhoben. Einen von ihnen aber beförderte das Palastregime jetzt und beauftragte ihn damit, Istanbul erdbebensicher zu machen.
Man findet kein Auskommen in der Türkei und keine Unterkunft, nicht einmal, wenn man den Tod in Kauf nimmt. Sie denken, diese Probleme seien doch politisch lösbar. Zumindest vertrauen Sie darauf, dass es Politiker, NGO-Vertreter und Journalisten gibt, die all dies aufs Tapet bringen können, nicht wahr?
Wir schämen uns fremd
In der Türkei muten solche Gedanken allerdings recht naiv an. Politiker, die womöglich eine Alternative bieten, lässt das Palastregime entweder hinter Gitter setzen oder per Gerichtsbeschluss aus der Politik entfernen. Journalisten ergeht es nicht anders. Kritisieren Journalisten die Regierung, verlieren sie zunächst ihre Arbeit, dann ihre Freiheit. 563 Mal mussten Journalisten im letzten Jahr vor Gericht erscheinen. 72 Journalisten wurden von der Polizei abgeholt, gegen 23 wurde Haftbefehl erlassen, sie mussten den Jahreswechsel im Gefängnis feiern. Die wenigen noch nicht von der Regierung kontrollierten Fernsehsender werden mit Bußgeldern abgewürgt. Die staatliche Aufsichtsbehörde für Rundfunk und Fernsehen RTÜK strafte oppositionelle Sender ganze 59 Mal ab. Entweder erhielten sie Sendeverbot oder mussten Bußgelder von einigen Millionen Lira entrichten.
RTÜK begnügt sich nicht damit, oppositionelle Sender zum Schweigen zu bringen. Sie greift auch in die Produktion von Telenovelas ein, einem der Exportschlager der Türkei in den letzten Jahren. Unsere Soaps haben mittlerweile die lateinamerikanischen überholt, allerdings darf nicht gezeigt werden, was der Regierung missfällt. Fernsehsender verpixeln nicht nur Weingläser, um Bestrafung zu entgehen, sondern auch Wassergläser mit Stiel. Wird in einer ausländischen Produktion die Frage: „Trinken wir ein Bier?“ gestellt, heißt es in den Untertiteln stattdessen: „Trinken wir etwas?“ Umarmen sich Mann und Frau, fährt die Kamera zum Himmel. Ohne einen einzigen Kuss gesehen zu haben, wird uns in der nächsten Szene das Baby im Arm des Paars präsentiert.
In einer solchen Türkei leben wir, ebendiese Türkei verlassen jene, die auswandern. Je mehr fortgehen, desto einsamer werden wir und desto kärglicher unser Land. Eingangs hatte ich erwähnt, dass wir uns schämen, Nummer zwei auf der BAMF-Liste der Asylanträge zu sein. Warum aber schämen wir uns, wenn es doch gar nicht unsere Schuld ist? Wir schämen uns fremd. Anstelle derer, die kein Schamgefühl mehr haben oder nie eines hatten.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.