Für Frau Weidel bin ich nur „Passdeutsche“ - viel wütender macht mich etwas anderes
Kolumne von Serap Güler

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Serap Güler: "Es ist für mich unverständlich, dass nach so vielen Enthüllungen, so viel offen zur Schau gestelltem Hass gegen Minderheiten, Frauen und alles, was unsere Gesellschaft so vielfältig macht, Menschen in Erwägung ziehen, ihre Stimme der AfD zu geben." imago/Güler © imago/Güler
Serap Güler:

Ich erfuhr schon sehr früh, dass Menschen wie ich für Alice Weidel nur „Passdeutsche“ sind. Die „Remigrations“-Pläne von AfD-Funktionären und Rechtsextremen überraschen mich deshalb nicht. Dass viele Menschen in diesem Land keine Schlüsse daraus ziehen, umso mehr.

Ich, die in diesem Land geboren wurde und aufgewachsen ist, hier zur Schule gegangen ist und nie in einem anderen Land gelebt hat, soll nach Machtübernahme einiger Neonazis aus diesem Land, aus meinem Land, deportiert werden. Das ist zumindest der Plan einiger AfD-Funktionäre, die sie zusammen mit Personen der rechtsextremen Szene in einer Villa in Potsdam geschmiedet haben und der durch die Plattform Correctiv nun öffentlich wurde.

Was ich dabei empfunden habe, wollten einige wissen, auch die FOCUS-online-Redaktion. Was also empfindet man, wenn man erfährt, dass man zwar 43 Jahre lang in diesem Land gelebt, aber nach der Vorstellung einiger doch nicht dazugehört?

Ich erfuhr früh, dass Menschen wie ich für Frau Weidel nur „Passdeutsche“ sind

Ehrlicherweise habe ich weder Wut noch Empörung empfunden. Auch keine Angst oder sonstiges Unwohlsein – und genau das ist eigentlich das Unschöne. Denn ich höre das alles ja nicht zum ersten Mal. Wer öfter und genau zugehört hat, den hat die Recherche nicht überrascht, sondern nur bestätigt.

Ich erfuhr schon sehr früh, dass Menschen wie ich für Frau Weidel nur „Passdeutsche“ sind, – wie sie im Fall von Deniz Yücel von sich gab. Was mich verstörte, war eher, dass es wenig Menschen gab, die sich darüber aufregten. Heute scheint das anders zu sein. Seit Tagen gehen tausende Menschen auf die Straßen, um deutlich zu machen, dass sie diese Ideologie, diesen Hass, diese Menschenfeindlichkeit nicht mehr schweigend hinnehmen wollen. Ich kann dazu nur sagen: Endlich. Endlich und Danke.

Ich mache mir keine Illusion darüber, dass die Demonstrationen die Umfrageergebnisse der AfD nicht von heute auf morgen wegmachen werden. Der Unmut in der Bevölkerung ist ja real und auch an einigen Stellen berechtigt.

Für mich ist es unverständlich, dass Menschen die AfD überhaupt nur in Erwägung ziehen

Es ist für mich nur unverständlich, dass nach so vielen Enthüllungen, so viel offen zur Schau gestelltem Hass gegen Minderheiten, Frauen und alles, was unsere Gesellschaft so vielfältig macht, Menschen in Erwägung ziehen, ihre Stimme dieser Partei zu geben. Ich bin die letzte Person, die Protest verteufelt – ihn zeigen zu können, ist eine Errungenschaft unserer Demokratie.

Doch ich möchte an alle appellieren, die mit dem Gedanken spielen, alles rechts von der Union zu wählen, dass sie in einem System aufwachen werden, das am Ende auch ihnen selbst schaden wird. Die AfD hat oft genug bewiesen, dass ihr Populismus gegen die ureigenen Interessen unserer Nation geht. Nicht umsonst ergreifen immer mehr Unternehmer, die Kirche, Fußballvereine oder Organisationen aus der Mitte der Gesellschaft immer häufiger das Wort und ziehen klare Kante. Die Gefahr ist real.

Dass Rassismus wieder in einem Land salonfähig geworden ist, von dem vor nicht einmal hundert Jahren die schlimmsten Menschheitsverbrechen und der Zweite Weltkrieg ausgingen, ist ein Armutszeugnis. Nicht nur für die 25 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben, eine Migrationsgeschichte haben und sich seit einiger Zeit vom politischen Klima beängstigt fühlen, sondern für diejenigen, die bis heute nicht verstanden haben, dass man Menschen nicht aufgrund der Herkunft, dem Aussehen, dem Namen oder der Sprache abwertet.

Gute, pragmatische und wertegeleitete Politik, ohne zu moralisieren, muss die Antwort sein

Man nennt es ganz einfach Anstand, den im Übrigen auch die Abgeordneten der AfD vermissen lassen, wenn sie sich im deutschen Parlament abfällig über Frauen, Menschen mit Behinderung oder Minderheiten äußern.

Umso stolzer machen mich die Bilder von den Demonstrationen in Köln, Hamburg, München oder Berlin. So viele Menschen wie nie zuvor gehen auf die Straße und zeigen Haltung gegen die hasserfüllte Politik der AfD. Eine starke Zivilgesellschaft gibt Antrieb für meine Arbeit im Parlament und zeigt, wie klein diese laute Minderheit eigentlich ist.

Wir sollten viel mehr über die friedliche, wenn auch von der Politik enttäuschte Mehrheit in diesem Land reden und nicht über die radikalen Ideologien in der AfD. Gute, pragmatische und wertegeleitete Politik, ohne zu moralisieren, muss die Antwort aller Demokraten sein. Es gibt genug Herausforderungen, die dieses Land in den nächsten Jahren zu bewältigen hat.