In Deutschland ackern oder in der Türkei leben? Ercan Demir* (53) hat sich für Letzteres entschieden. Er hat seinem gut laufenden Business in München den Rücken gekehrt und sich eine neue Existenz in Alanya aufgebaut - weil er nicht mehr „Sklave des Systems“ sein wollte.
FOCUS online: Guten Morgen nach Alanya. Wie ist das Wetter?
Ercan Demir: Im Moment, am späten Vormittag, 15 Grad. Später werden es wohl 19 Grad. Ich bin sicher, dass jetzt bereits einige Leute am Strand sind. Zum Joggen, für Yoga. Mit den Sonnenstrahlen fühlen sich die 19 Grad eher an wie 24. Einen Pulli braucht man dann nicht mehr.
Sie sind 2019 ausgewandert. Wie kam es dazu?
Demir: Ich habe 20 Jahre lang ein Fitnessstudio in München betrieben, der Mietvertrag lief damals aus. Mein Wunsch war immer, im Süden zu leben. Schon vor über zehn Jahren habe ich in einem Interview gesagt: Ich will ein Fahrrad, zwei Hunde und das Meer vor mir haben.
Und?
Demir: Genauso ist es gekommen.
Auswanderer Ercan: „Du bist Sklave des Systems“
Apropos Süden: Sie sind in der Türkei geboren, da lag das Heimatland als Zufluchtsort sicher nahe?
Demir: Nicht unbedingt, es hätte genauso gut Südamerika werden können. Ich habe damals rauf und runter zu verschiedenen südlichen Ländern recherchiert. Zwei Dinge waren für mich klar. Erstens: Ich will raus aus der EU. Und zweitens: Die Lebenshaltungskosten sollten niedrig sein.
In diesem Punkt schlägt die Türkei Regionen wie beispielsweise die italienische Riviera, Südfrankreich oder die Costa Brava in Spanien klar. Über den Daumen lässt sich sagen: Alles ist hier etwa 40 Prozent günstiger. Bei den Immobilien sind es sogar 60 bis 70 Prozent.
Manch einer wird jetzt möglicherweise mit Sicherheit argumentieren. Es stimmt schon, im 21. Jahrhundert ist eine stabile finanzielle Lage für die Sicherheit im Land wichtig. Die Frage ist aber doch: Wie viel Freiheit opfere ich dafür? Wenn du im Kopf nicht frei bist, bringt es dir auch nichts, finanziell gut gestellt zu sein. Selbst dann nicht, wenn du Millionen scheffelst. Du bist Sklave des Systems.
Waren Sie das denn in Ihrer Münchner Zeit, ein Sklave?
Demir: Ein Stück weit schon. Für mich war jedenfalls klar, bis zur Rente mit 67 so weitermachen – sieben Tage die Woche 12 Stunden arbeiten – das war keine Option. Meine um einiges jüngere Freundin Jenny hat das ähnlich gesehen. Irgendwann ist es immer wichtiger für mich und uns geworden, sich im Leben auf die endlichen Dinge zu konzentrieren. Nicht auf das Materielle.
Wie geht das gute Leben? Ich glaube, spätestens ab der Lebensmitte kommt bei den meisten Menschen diese Frage auf. Tatsächlich lebe ich heute ein recht einfaches, sparsames Leben. Mal abgesehen von der Größe des Hauses … Das ist natürlich schon ein gewisser Luxus.
„Wenn deine Sicht nach sechs Metern von einem Häuserblock gebremst wird, macht das was mit dir“
Erzählen Sie mal, wie kann man sich den Absprung vorstellen?
Demir: Im Barbereich meines Münchner Fitnessstudios stand damals ein riesiger Fernseher. Da liefen acht Stunden am Tag Videos von Immobilien hier in der Türkei. Villa, Pool, Palmen, Vegetation. Orangen, Zitronen, Mandarinen. Ich fand das total entspannend, mir war das lieber als Musikvideos oder Politik.
Manchmal meinte ein Kunde: „Träum weiter, Ercan, das kannst du dir doch sowieso nicht leisten". Vielleicht hat mich auch das dazu angestachelt, mal ein bisschen genauer hinzuschauen. Ab und zu habe ich die Kunden dann schätzen lassen, was die Villa kostet, die da gerade präsentiert wurde. Die Leute lagen in der Regel um das Zehnfache drüber. Jedenfalls habe ich eines Tages beschlossen, da mal hinzufahren und mir das vor Ort
anzuschauen.
Back to the roots, zurück in die Heimat?
Demir: Nein, gar nicht. Alanya liegt am Mittelmeer. Ich selbst bin an der Schwarzmeerküste geboren, bevor ich mit neun Jahren nach Deutschland kam. Man kann die beiden Regionen, die übrigens 800 Kilometer auseinanderliegen, überhaupt nicht miteinander vergleichen. Für mich war Alanya Neuland, genau wie für Jenny.
Was erwartete Sie?
Demir: Eine Wohnung in der ersten Meeresreihe. Ich konnte die Wellen sehen und hören. Zur Wohnung gehörte ein eigenes Strandabteil. In der Ferne konnte ich die Berge des Taurus-Gebiets sehen. Überhaupt, ich glaube, das war das, was mich am meisten geflasht hat: die Weitsicht. Der Blick geht 35 Kilometer.
Ich bin der Meinung: Weitsicht bringt jemanden weiter. Wenn deine Sicht nach sechs Metern von einem Häuserblock gebremst wird, macht das was mit dir. Keine Ahnung, ob jeder das so wahrnimmt, aber ich habe das ganz deutlich gespürt. Ich war bereit.
„Ich wusste: Die Straßen, die du jetzt fährst, siehst du nie wieder. Das ist One Way“
Klingt so, als seien Sie dann ganz schnell aus Deutschland weg?
Demir: Richtig. Ich bin noch mal für eine Woche zurück nach München, habe die Wohnung aufgelöst, mich von Freunden verabschiedet und einen Dreieinhalbtonner gemietet. Ich wusste: Die Straßen, die du jetzt fährst, siehst du nie wieder. Das ist One Way.
Und jetzt? Vom Meer hatten wir es ja schon. Was ist mit dem Fahrrad und den Hunden?
Demir: Habe ich auch alles. Wenige Wochen nach meiner Ankunft sind mir zwei Welpen zugelaufen. Straßenhunde, die nun seit vier Jahren bei mir leben. Die beiden sind das Schönste, was mir passieren konnte! Ich bin sehr tierlieb, ich wollte, dass die beiden Hunde frei sind. So komisch das für manch einen vielleicht klingt: Das war der Grund, weshalb ich aus der Wohnung raus bin.
Jenny hat München etwas später den Rücken gekehrt, wir leben jetzt in einem Haus mit 52 Hektar Bananenplantagen davor. Die Hunde gehen raus, machen einen Spaziergang, kommen zurück. Ich finde es nicht in Ordnung, ein Tier in einer Wohnung zu halten, wo es oft stundenlang warten muss, bis Herrchen oder Frauchen vom Job zurückkommen.
Wie kann man sich Ihren Alltag in der Türkei vorstellen? Eine Art Frührentnerdasein, war das der Plan?
Demir: Tatsächlich ja. Wenn mich meine Münchner Freunde gefragt haben, was ich da unten machen will, habe ich gesagt: nichts. Aber nur faul sein und rumlungern, das hätte mich auf Dauer nicht glücklich gemacht. Ich brauche Aktivität, Visionen.
2020 haben Jenny und ich angefangen, auf YouTube über unser neues Leben zu berichten - und auch auf Fragen einzugehen, die von den Followern kamen. Zum Beispiel, weshalb ein EU-Land für uns für den Neustart nicht infrage gekommen wäre.
Ich kann mich darauf verlassen, dass nicht x Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten kommen“
Und? Wieso?
Demir: Meine Erfahrung ist die, dass die Menschen in einer Region, die wirtschaftlich funktioniert, weniger in Berührung miteinander sind. Beispiel München: Als ich vor über 20 Jahren ins Glockenbachviertel gezogen bin, gab es da noch ganz viele kleine Läden. Den Bäcker, den Metzger, die Fahrradwerkstatt. Wo man auch hinkam, kannte man sich.
Dann hat sich das Viertel verändert, große Unternehmen kamen rein. Plötzlich hat man im Fahrradladen einen Termin machen müssen, wenn die Reifen geflickt werden mussten. Gespräche, das Persönliche, all das wurde weniger. Im Prinzip gibt es dieses Muster überall in der EU. Nicht zu vergessen die Gesetze. Die französischen Steuerbestimmungen sind viel strenger als hier. Und wissen Sie, was die Deutschen als erstes übernehmen, wenn sie hierherkommen?
Was?
Demir: An der Ampel über Rot fahren. Mit dieser gewissen Lässigkeit, die was mit innerer Freiheit zu tun hat. Das ist schwer zu erklären, denn für München würde das natürlich nicht gehen. Wenn ich hier mit meinem Pick-up über die Felder rauf auf einen Berg fahre, kann ich mich darauf verlassen, dass hinterher nicht x Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten kommen.
Braucht man das? Für hier kann ich die Frage klar mit Nein beantworten. Auch das ist Teil der Freiheit, neben dem Finanziellen.
„Ich sag' mal so: Der deutsche Geringverdiener kommt da auf jeden Fall ins Nachdenken“
Eine Wohnung, vergleichbar mit der, in der Sie zu Beginn gelebt haben: Was kostet das?
Demir: Mittlerweile haben die Preise angezogen. Nehmen wir eine Zwei-Zimmer-Wohnung, komplett eingerichtet, Indoor-Pool, Sauna, Fitnessstudio, Meerblick. Sowas kriegt man problemlos für 450 Euro Monatsmiete. Warm. Plus etwa 500 bis 800 Euro zum Leben pro Kopf und Monat. Also zusätzlich zur Wohnung.
Ich sag' mal so: Der deutsche Geringverdiener kommt da auf jeden Fall ins Nachdenken. Und zwar zunehmend, wie wir sehen. Seit wir unsere Geschäftsidee verwirklicht haben und Immobilien für deutsche Rentenbezieher anbieten, nimmt die Nachfrage immer weiter zu.
Wie kam es zu diesem Business?
Demir: Es gab keinen Plan. Mich hat das einfach umgetrieben, wenn ich daran gedacht habe, wie Rentner sich das Leben in München nicht mehr leisten können, nachdem sie ihr Leben lang hart gearbeitet haben. Ich finde das sehr traurig.
Wir bieten den Leuten ein Rundum-Paket an: Wir sagen, was sie beachten müssen, wenn sie dauerhaft hier leben wollen. Inzwischen sind die Bestimmungen deutlich strenger als 2019. Damals hätte man ohne einen einzigen Cent hierherkommen können. Heute sind Einkommensnachweise gefordert. Aber meist findet sich eine Lösung.
An die hundert Familien sind bereits mit unserer Hilfe ausgewandert und haben hier Fuß gefasst. Wenn es wegen der Bestimmungen nicht dauerhaft geht, gibt es immer noch die Option, vorübergehend zu kommen. Über den Winter etwa. Bis zu sechs Monate kann jeder mit einem Touristenvisum einreisen. Man muss sich noch nicht mal registrieren dafür.
„An jeder Supermarktkasse wird zumindest bruchstückhaft Deutsch gesprochen“
Was sagt Ihr Gewissen zum Konzept „gutes Leben zu Dumping-Preisen“? Dass das Leben in der Türkei so günstig ist, kommt schließlich nicht von ungefähr. Ein Grund ist die Wirtschaftskrise.
Demir: Das ist richtig, allerdings hat Alanya da eine gewisse Sonderrolle. So wie die in Dubai an Öl gekommen sind, sind die Alanyaner an Land gekommen. Einheimische, die gesund denken, wissen: Wir brauchen einander. Alanya braucht die Auswanderer und die Touristen. Nur so funktioniert die Region, in der übrigens 46 Prozent Zugezogene leben. In einer, wie ich finde, sehr gelassenen Gesamtatmosphäre.
Sind Einwanderer und Einheimische Ihrer Wahrnehmung nach denn viel miteinander in Kontakt?
Demir: Für mich selbst würde ich die Frage mit ja beantworten. Klar, ich bin an der Schnittstelle. Generell könnten die Deutschen noch etwas nachlegen, finde ich. Es gibt Leute, die leben seit 20 Jahren hier und sprechen noch nicht mal fünf Wörter Türkisch.
Die Einheimischen tun alles, um den Kunden gerecht zu werden. An jeder Supermarktkasse wird zumindest bruchstückhaft Deutsch gesprochen. Für mich steht fest: Wo sprachliche Barrieren fallen, fallen auch andere Barrieren. Das sollte allerdings in beide Richtungen gelten. Wenn sich in diesem Punkt noch was tut, wird es hier unten bestimmt noch entspannter und schöner.