Islamexperte Guido Steinberg: "Das Problem ist, dass Erdogan gerade vor Kraft kaum laufen kann"

Artikel von Veit Medick  •Steren   1 Std.

Türkischer Präsident Erdoğan: Heikler Besuch beim Kanzler

Türkischer Präsident Erdoğan: Heikler Besuch beim Kanzler © AFP/Kazakhstan's Presidential Press Service

 

Der Besuch des türkischen Präsidenten in Berlin sorgt für emotionale Debatten. Im stern-Interview erklärt Islamexperte Guido Steinberg, warum die Einladung des Kanzlers in einer problematischen Tradition steht – aber trotzdem richtig ist.

Am Abend kommt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Abendessen mit dem Kanzler nach Berlin. Wie heikel ist der Besuch?

Machen wir uns nichts vor: Wir haben es mit einem Politiker zu tun, der seine Wurzeln in der türkischen Muslimbruderschaft hat. Das wissen wir seit Jahren, das zeigt sich aber gerade wieder daran, wie Erdogan die Hamas feiert, Israel attackiert und versucht, sich als Anführer der muslimischen Welt zu inszenieren. Das Problem ist, dass Erdogan gerade vor Kraft kaum laufen kann. Da muss man sich gut überlegen, wie man mit ihm umgeht.

Wie sollte der Kanzler agieren? Was erwarten Sie von ihm?

Bisher macht er alles richtig. Die Türkei ist trotz aller Kritik an ihrem Präsidenten und seiner Politik ein wichtiger Nato-Verbündeter, zumindest theoretisch ein EU-Beitrittskandidat und ein Schlüsselland in der aktuellen Migrationskrise. Natürlich muss sich der Kanzler mit dem Präsidenten treffen – und während des Treffens einige unaufgeregte, aber klare Worte zu Erdogans Äußerungen zum Konflikt zwischen der Hamas und Israel finden. 

Erdogan ist nur einer von mehreren problematischen Herrschern, die der Kanzler dieser Tage trifft. Die Liste ist lang: Xi Jingping, der Emir von Katar, Ägyptens Präsident al-Sisi. Müssen wir uns an diese Despoten jetzt etwa gewöhnen?

In gewisser Weise ja. Was Scholz macht, ist die Anerkennung der Wirklichkeit. Die Luft für Deutschland wird international dünner; die Zahl und die Macht autoritärer Staaten weltweit steigt. Wir müssen mit diesen Figuren reden, so schwierig das ab und zu auch ist. Ob in der Flüchtlingspolitik, der Sicherheitspolitik oder den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten – wir kommen an autoritären Herrschern in Ankara, Istanbul oder Riad nicht vorbei. Und Scholz' Kurs hat sich in der Regierung mittlerweile durchgesetzt.

Inwiefern?

Die Außenministerin hat anfangs rhetorisch ganz andere Fässer aufgemacht als der Kanzler. Sie hat von feministischer Außenpolitik gesprochen und einer wertegeleiteten Außenpolitik. Davon ist jetzt bei ihr kaum noch die Rede, weil es viel dringendere, existentiellere Fragen gibt und das Handeln unserer Regierung mit diesen sehr theoretischen Konzepten auch nicht in Einklang zu bringen ist. Scholz hingegen hat keine großen Visionen entworfen, deshalb fällt es jetzt nicht so auf, mit wem er sich da alles trifft.

Auch seine Partei duldet das. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Scholz hilft die Tradition in der SPD, zu Diktaturen und Autokraten ein oft vertrauensvolles Verhältnis entwickelt zu haben – oft viel zu vertrauensvoll. Eigentlich müsste sein Kurs Spannungen erzeugen in der SPD, wo ja gerne von Menschen- und Frauenrechten, von Minderheitenschutz und sozialer Demokratie weltweit gesprochen wird. Aber im Verhältnis zu Diktaturen hat die Sozialdemokratie immer schon äußerst realpolitisch und oft distanzlos agiert.

Sie meinen die Nähe zu Wladimir Putin?

Zum Beispiel. Scholz macht das aber vorsichtiger als manch andere vor ihm. Ihm geht die naive Realitätsferne von Frank-Walter Steinmeiers Russlandpolitik ab, vor allem aber ist ihm die kumpelhafte Verbrüderung eines Gerhard Schröder mit Despoten wie Putin und Erdogan fremd. Er macht das kühl pragmatisch, erkennt Realitäten an und wahrt persönliche Distanz. Noch etwas anderes hilft ihm: der in der Partei tief verankerte Glaube an das Mantra Wandel durch Annäherung. Viele Sozialdemokraten glauben noch immer, dass sich Gefahren mindern lassen, wenn man auf Autokraten zugeht, man nicht auf Konfrontation setzt, sondern auf Partnerschaft. Deshalb wirft seine Partei dem Kanzler seine Politik auch nicht vor.

Braucht Erdogan eigentlich auch uns?

Natürlich. Deutschland und die EU sind vor allem wirtschaftlich für die Türkei wichtig, die sich seit Jahren in einer tiefen Wirtschaftskrise befindet, die Erdogan fast die Wiederwahl gekostet hätte. Hinzu kommt die Migrationspolitik, wo die Türkei von dem Flüchtlingsdeal von 2016 profitiert hat und gerne mehr Unterstützung haben möchte. Möglicherweise sorgt sich die türkische Regierung auch, dass die gegenwärtige Debatte über den Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland Auswirkungen auf seine Verbündeten hierzulande haben wird. Es gibt Stimmen, die fordern ein härteres Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft und auch gegen türkische religionspolitische Organisationen wie die DITIB, denen vorgeworfen wird, von Ankara gesteuert zu werden.