„Erdogan könnte Öl ins Feuer gießen und die Situation auf deutschen Straßen verschärfen“
Der türkische Präsident Erdogan erklärt Hamas-Terroristen zu Freiheitskämpfern und wirft Israel Kriegsverbrechen vor. Mitte November wird er beim Kanzler in Berlin erwartet. Für die SPD ist eine Isolierung des Nato-Partners keine Option. Ein Politikforscher rügt das Festhalten an der Visite.
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Es war eine Hetztirade gegen den Westen, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Samstag bei einer Kundgebung in Istanbul losließ. Westliche Länder führten „eine Kreuzzugs-Atmosphäre“ gegen Muslime herbei und zettelten einen neuen „Krieg zwischen Kreuz und Mondsichel“ an. „Wenn ihr so eine Absicht habt, dann vergesst nicht, diese Nation ist noch am Leben“, rief Erdogan. Man könne „jede Nacht unerwartet kommen“.
Verstanden werden muss das als Drohung, sich in den Krieg zwischen Israel und der Hamas einzumischen. Hier hatte Erdogan sich zuvor noch selbst als Vermittler vorgeschlagen – doch diese Rolle später wieder aufgegeben. Israel sei ein „Kriegsverbrecher“, sagte er. Die Hamas hatte er zuvor bereits als „Gruppe von Freiheitskämpfern“ bezeichnet, die dafür kämpfe, „ihr Land und ihr Volk zu beschützen“.
Nun steht ein Besuch in Deutschland bevor – am 17. und 18. November wird Erdogan in Berlin erwartet. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, kündigte an, dass auch die Lage in Israel und im Gaza-Streifen Gegenstand der Gespräche zwischen dem türkischen Präsidenten und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sein werde.
„Dabei wird der Bundeskanzler klar und deutlich unsere Sichtweise auf den Konflikt zum Ausdruck bringen und jeglichen Versuchen, die Verbrechen der Hamas zu relativieren, nachdrücklich widersprechen“, sagte Schmid WELT. „Gleichwohl müssen wir auch mit Erdogan im Gespräch bleiben. Unser Ziel muss es sein, dass die Türkei ihre Rolle als konstruktive Gestaltungsmacht wahrnimmt und sich nicht auf die Seite von Terroristen schlägt.“
AfD-Außenpolitiker Stefan Keuter ist der Ansicht, dass Erdogans Äußerungen zur Hamas und dem Westen beim Besuch in Berlin „nicht zu hoch aufgehängt werden sollten“, sagte er. „Es muss Deutschlands Interesse sein, zur Türkei gute Beziehungen zu unterhalten.“ Wichtige Gesprächsthemen seien die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Steuerung von Migration. „Es muss jedoch klargemacht werden, dass Deutschland an der Seite Israels steht.“
„Keine Gesprächsgrundlage mehr“
Burak Copur, Professor für Politikwissenschaft an der Internationalen Hochschule in Essen, kann hingegen angesichts der Hamas-Verteidigung Erdogans „keine Gesprächsgrundlage mehr“ erkennen. Wirtschaftliche und migrationspolitische Angelegenheiten könnten auf ministerieller Ebene besprochen werden, sagte der Türkei-Forscher und Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen. „Es wäre das völlig falsche Signal, Erdogan jetzt in Berlin den roten Teppich auszurollen und dadurch seine Hamas-Unterstützung zu verharmlosen“, sagte Copur weiter. „Erdogan könnte auch vor seinen Anhängern in Deutschland weiter Öl ins Feuer gießen. Das würde die Situation auf den deutschen Straßen verschärfen.“
Erdogan hatte zuletzt monatelang den Beitritt Schwedens zum Nato-Verteidigungsbündnis blockiert und kürzlich dem türkischen Parlament das Beitrittsprotokoll zur Ratifizierung vorgelegt. Nach diesem positiven Signal an den Westen verschärft der AKP-Vorsitzende nun wieder den Ton.
„Erdogan ist und bleibt ein äußerst schwieriger Nato-Partner“, sagte Ulrich Lechte, außenpolitischer Sprecher der FDP im Bundestag. „Dass Erdogan einerseits als zuverlässiger westlicher Partner auftritt und andererseits den Westen angreift, um innenpolitisch zu Punkten, ist hinlänglich bekannt. Dem müssen wir energisch entgegentreten, und ich gehe davon aus, dass wir dies auch beim nächsten Nato-Treffen entsprechend kritisch mit der Türkei diskutieren werden.“
Auch SPD-Außenpolitiker Schmid verweist darauf, dass sich Erdogan bereits zuvor „vom gemeinsamen Wertekompass der Nato-Mitgliedstaaten entfernt“ habe. „Da Erdogan gerade erst wiedergewählt worden ist,
werden wir die nächsten Jahre weiter mit ihm zu tun haben“, sagte er. „Eine Isolierung der Türkei ist jedenfalls keine realistische Option.“
Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln, ist überzeugt, dass sich Erdogan derart scharf über den Westen äußern könne, ohne etwas befürchten zu müssen. „Die Türkei kann sich aufgrund der geostrategischen Lage diesen Handlungsspielraum nehmen. Alle Seiten, die mit der Türkei zu tun haben, wollen verhindern, dass die Türkei fest im Lager des anderen ist“, sagte er WELT.
Weil man die Türkei nicht als Bündnispartner verlieren wolle, führe es in der Nato nicht zu tiefen Rissen, dass Erdogan freihändig handle. „Es wird aber das Bewusstsein wachsen, dass man sich auf die Türkei nicht verlassen kann, auch nicht im Bündnisfall“, sagte Jäger weiter. Der Artikel 5 des Nato-Vertrags, der regelt, dass im Falle von Angriffen jeder Verbündete „Beistand leistet“, sei „nur dann etwas wert, wenn man sich darauf verlassen kann, dass die Partner im Zweifelsfall helfen können und wollen“, so der Politikwissenschaftler. „Die Türkei könnte zwar, aber Erdogan behält sich immer andere Entscheidungen vor.“
Die Grünen-Fraktion sagte aus terminlichen Gründen eine Antwort auf eine WELT-Anfrage ab; Union und Linke im Bundestag reagierten nicht.