Versteckte Drohung: Greift Erdogan militärisch in den Israel-Gaza-Krieg ein?

Artikel von Michael Maier Berliner Zeitung

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan präsentierte die Türkei am Samstag als Schutzmacht aller Muslime.  

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan präsentierte die Türkei am Samstag als Schutzmacht aller Muslime.   © TURKISH PRESIDENCY PRESS OFFICE
 

Zwischen der Türkei und Israel ist es zu einem schweren diplomatischen Konflikt gekommen. Nachdem der türkische Präsident Israel und den Westen bei einer Rede am Samstag massiv attackiert hatte, rief das israelische Außenministerium sämtliche Diplomaten aus Ankara zurück. Israels Außenminister Eli Cohen sagte laut Times of Israel, der Rückruf erfolge, um die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel zu überprüfen.

Erdogan hatte laut mehreren türkischen Medien sogar indirekt gedroht, militärisch im Gazastreifen zu intervenieren. Er warf dem Westen vor, Israel als Speerspitze eines „Kreuzzugs“ zu missbrauchen. Er sagte, die Aufgabe der türkischen Nation sei, die Muslime auch außerhalb der türkischen Grenzen zu schützen. Erdogan sagte, direkt an den Westen gerichtet: „Westliche Nationen, ich wende mich an Sie, möchten Sie einen Kreuzzug und einen Kampf gegen den Halbmond neu entfachen? Wenn Sie ein solches Unterfangen verfolgen, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass diese Nation noch lange nicht besiegt ist. Diese Nation steht entschlossen da. So wie wir in Libyen und Karabach die gleiche Entschlossenheit an den Tag gelegt haben, wissen Sie, dass wir auch im Nahen Osten standhaft sind.“

Sowohl in Libyen als auch im Krieg gegen die Armenier ist die Türkei aktiv militärisch tätig geworden. Erdogan sagte in seiner Rede laut der Website der türkischen Regierung, dass die Türkei in ihrer Geschichte stets die Aufgabe gehabt habe, die bedrohten Muslime überall auf der Welt zu verteidigen, ob „in Thrakien, auf dem Balkan, im Kaukasus, in jedem Zentimeter der östlichen Mittelmeerküste, in ganz Zentralasien, Südasien und Afrika“. Erdogan, der am Samstag mit einem Schal auftrat, auf dem die Palästinenser-Flagge und die türkische Fahne zu sehen waren, warf dem Westen Heuchelei vor. Er sagte: „Diejenigen, die gestern unaufrichtige Tränen für die im Ukraine-Russland-Konflikt getöteten Zivilisten vergossen haben, werden heute stillschweigend Zeugen des tragischen Todes Tausender unschuldiger Kinder. Sie haben um diejenigen geweint, die in der Ukraine umgekommen sind. Warum erhebt sich Ihre Stimme nicht für diese unschuldigen Kinder, die in Gaza ihr Leben verloren haben?“

Vor einer Menge von etwa 1,5 Millionen Teilnehmern bezeichnete Erdogan Israel als „Kriegsverbrecher“ und den Westen als „Hauptverantwortlichen für die Massaker im Gazastreifen“. Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP hatte die Großkundgebung „zur Unterstützung Palästinas“ auf dem ehemaligen Atatürk-Flughafen von Istanbul am Vorabend der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Republik Türkei organisiert. „Israel, vor der ganzen Welt erklären wir Euch zum Kriegsverbrecher“, rief Erdogan. „Was in Gaza passiert, ist keine Selbstverteidigung, sondern ein Massaker.“ Er sagte, der Westen werde Israel fallenlassen, sobald das Land für die großen Westmächte nicht mehr nützlich sei. 

Der Experte Soli Özel von der Istanbuler Kadir-Has-Universität warf laut AFP die Frage auf, warum die Kundgebung ausgerechnet am Tag vor dem Atatürk-Gedenken angesetzt wurde. „Hätte das nicht noch bis kommende Woche Zeit gehabt?“, fragte er. Özel wertete dies als Zeichen dafür, dass Erdogan Atatürk nicht allzu viel Ehre zuteil kommen lassen wolle, da er dessen laizistisches Erbe in zahlreichen Punkten bekämpfe. Seit langem versucht Erdogan, sich weltweit als Schutzmacht der Muslime zu präsentieren. Damit gerät er zwangsläufig in Konflikt mit anderen Nationen, die sich ebenfalls als Schutzherren sehen. 

Irans Außenminister Hussein Amirabdollahian hat daher umgehend mit seinem saudischen Amtskollegen Faisal bin Farhan über den Gaza-Krieg beraten - und wohl auch die Frage, welche Rolle die Türkei in der islamischen Welt spielen soll. Die beiden hätten in dem Telefonat darüber gesprochen, dass die Weltgemeinschaft sich dringend für eine Feuerpause einsetzen müsse, hieß es in einer Mitteilung des saudischen Außenministeriums am Sonntag, in der von einer „sehr ernsten Lage“ die Rede war. Die Staaten müssten sich angesichts der „eskalierenden Militäreinsätze“ um den Schutz von Zivilisten bemühen. Die iranische Nachrichtenagentur IRNA berichtete, die beiden Minister hätten über die „gefährlichen Entwicklungen“ im Gazastreifen gesprochen. Auch mit seinem Amtskollegen aus Katar telefonierte der iranische Außenminister laut der iranischen Nachrichtenagentur IRNA. In welcher Form und ob die Rolle der Türkei diskutiert wurde, wurde nicht bekannt. 

Der türkische Außenminister Hakan Fidan telefonierte am Sonntagabend mit US-Außenminister Antony Blinken, so die regierungsnahe Zeitung Sabah.. Die beiden Spitzendiplomaten, die seit Ausbruch der jüngsten Phase des Palästina-Israel-Konflikts Anfang Oktober in engem Kontakt stehen, sollen laut anonymen, „diplomatischen“ Quellen der Zeitung über die Lage in Nahost beraten haben. Die Quellen sagten demnach, Blinken und Fidan hätten über die Verhinderung einer Ausbreitung des Gaza-Konflikts in der Region, über Bemühungen zur Sicherstellung der Freilassung von Geiseln und die Dringlichkeit der Schaffung eines humanitären Korridors gesprochen. Fidan soll Blinken demnach gesagt haben, dass es inakzeptabel sei, die Menschen in Gaza ohne Diskriminierung ins Visier zu nehmen.

Das Council on Foreign Relations sieht die Beziehungen zwischen Washington und Ankara als gespannt an. In einer Analyse schreibt Henri J. Barkey, Erdogan hätte zunächst eigentlich „viel zur Suche nach einem Kompromiss in diesem Konflikt beitragen können“. Doch mit der „Schärfe seiner antiamerikanischen Sprache“ habe er das geringe Vertrauen, das Washington ihm möglicherweise entgegenbrachte, verspielt. Erdogan würde demnach in „den von den USA geführten Verhandlungen“ keine Rolle mehr spielen. 

Israel indessen setzte am Sonntag die Bodenoffensive fort. Laut Mitteilung der israelischen Regierung waren Panzer im Gazastreifen im Einsatz, die Bombenangriffe gegen den Norden gingen unvermindert weiter. Die israelische Armee rief die Bevölkerung erneut auf, das Gebiet zu verlassen, da der „ganze Norden nun Kampfzone“ sei. Internationale Hilfsorganisationen in Gaza verweisen auf eine zunehmend schwierige Situation für ihre Arbeit. Tausende Menschen seien in mehrere Lagerhäuser und Verteilungszentren des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) in mittleren und südlichen Gebieten des Gazastreifens eingebrochen, teilte UNRWA am Sonntag in Rafah mit.

UN-Generalsekretär António Guterres bekräftigte seinen Aufruf zu einem sofortigen Waffenstillstand. Nachdem der Kontakt zu Mitarbeitern wegen des Zusammenbruchs des Telekommunikationsnetzes in Gaza zeitweise unterbrochen war, teilte das UN-Welternährungsprogramm am Sonntag auf X mit, dass sich die Lage zwischenzeitlich wieder verbessert habe. Die Geschäftsführerin der Organisation, Cindy McCain, erklärte, die Mitarbeiter in Gaza arbeiteten rund um die Uhr daran, Lebensmittel so schnell wie möglich zu verteilen.

Auch der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, schrieb am Sonntag auf X, dass die Hilfsorganisation es wieder geschafft habe, Kontakt zu allen Kollegen in Gaza aufzunehmen. Er forderte erneut einen „sofortigen humanitären Waffenstillstand, den Schutz von Gesundheitseinrichtungen und humanitären Helfern“. Auch das UN-Kinderhilfswerk Unicef konnte wieder wenige seiner Mitarbeiter im Gazastreifen kontaktieren, wie die Organisation am Sonntag auf X mitteilte. Am Samstag beklagten WHO und Unicef, dass sie den Kontakt zu Mitarbeitern in Gaza verloren hätten.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Sonntag für eine Welle der Empörung in Israel gesorgt, nachdem er den Geheimdiensten die Schuld am Versagen bei der Verhinderung des Massakers vom 7. Oktober gegeben hatte. Netanjahu löschte das Posting schließlich und entschuldigte sich.