Der Kampf der türkischen Arbeiterinnen: „Sie sind die wahren Diebe“

-Ein schweres Polizeiaufgebot hält vor den Toren von Agrobay die streikenden Arbeiterinnen in Schach

.Seit mehr als 30 Tagen demonstrieren in einem kleinen Ortsteil von Izmir die Beschäftigten des türkischen Lidl-Lieferanten Agrobay gegen miserable Arbeitsbedingungen. Sie fordern vom deutschen Discounter, das Lieferkettengesetz umzusetzen.

„Agrobay-Widerstand“ steht auf einem Schild in einem kleinen Ortsteil der westtürkischen Stadt Izmir. Seit mehr als 30 Tagen demonstrieren hier täglich Dutzende von Arbeiterinnen vor dem türkischen Unternehmen Agrobay, einem Gewächshaus. Sie beklagen die Missstände, die bei ihrem Arbeitgeber herrschen. Unter anderem gebe es seit mehreren Jahren verspätete Lohnzahlungen, unbezahlte Überstunden und „unmenschliche Arbeitsbedingungen“. Ende August soll Agrobay sie entlassen haben, weil sie sich gewerkschaftlich organisiert haben.

 Als letzten Ausweg demonstrierten die Arbeiterinnen am vergangenen Mittwoch vor dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul und schrieben einen offenen Brief an den deutschen Generalkonsul, um die deutschen Behörden an ihre Verantwortung für das Lieferkettengesetz zu erinnern – denn das Gewächshaus ist einer der Tomatenlieferanten des deutschen Discounters Lidl.

Offener Brief an den deutschen Generalkonsul

„Die Beschäftigten leiden unter einem feindseligen Arbeitsumfeld, einschließlich der Verweigerung von Grundbedürfnissen wie Pausen, Wasser und Toiletten“, heißt es in dem offenen Brief der Landarbeitergewerkschaft Tarim-Sen an den deutschen Generalkonsul Johannes Regenbrecht. Außerdem gebe es schon seit langem mehrere nicht gemeldete Arbeitsunfälle und Sicherheitsmängel. „Unzureichende Sicherheitsvorkehrungen für Beschäftigte, die in großen Höhen arbeiten, das Fehlen einer grundlegenden Schutzausrüstung, der sorglose Einsatz von Pestiziden und die strengen Arbeitsbedingungen führen zu gesundheitlichen Problemen einschließlich Ohnmachtsanfällen während der Arbeitszeiten“, heißt es in dem Brief weiter. Die Agrobay-Arbeiterinnen haben sich in diesem Jahr gegen diese Missstände bei der Gewerkschaft Tarim-Sen organisiert, daraufhin seien die 39 Beschäftigten, fast ausschließlich Frauen, Ende August entlassen worden.

Nach Ansicht der Gewerkschaft Tarim-Sen handelt es sich dabei auch um eine ungerechte Entscheidung, da die Entlassungen unter dem Vorwand des „Code 46“ erfolgten. In der Türkei sind die Gründe für eine Entlassung in verschiedenen Codes festgelegt. Nach Angaben der türkischen Sozialversicherungsanstalt (SGK) sieht der sogenannte Code 46 die Entlassung von Beschäftigten vor, wenn sie sich illoyal und unehrlich verhalten. Das ist zum Beispiel bei einem Missbrauch des Vertrauens des Arbeitgebers, Diebstahl oder Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen des Arbeitgebers der Fall. Liegt eine Situation vor, die den Code 46 erfordert, erhält der oder die Beschäftigte weder eine Abfindung noch eine Kündigungsentschädigung oder Arbeitslosengeld. Dieser Code ist in der Türkei oft eine Begründung, um Abfindungen zu umgehen.

„Wir haben uns alles gefallen lassen, nicht aus Ignoranz. Ich habe hier gearbeitet, um meiner Familie etwas Geld zu bringen“, berichtet die 45-jährige Arbeiterin Tülay Gören, die zuvor mehr als sechs Jahre lang bei Agrobay gearbeitet hat und Ende August wegen angeblichen Diebstahls entlassen wurde. Bei einer offiziellen Inflationsrate von fast 59 Prozent und einer Arbeitslosenquote von 10,47 Prozent bedeutet der Mindestlohn (aktuell 11 402 Türkische Lira netto im Monat – rund 440 Euro), als Mutter zweier Kinder, für sie und ihre Kolleginnen viel. „Ich habe hier viel gesehen. Ich habe unter sehr schwierigen Bedingungen gearbeitet und viel gelitten“, sagt Gören. Unter anderem habe das Unternehmen ihr Gehalt im Krankheitsfall oder im Urlaub gekürzt. „Wir sind keine Diebe, sie sind die wahre Diebe“, sagt Gören.

Lidl gibt an, Ermittlungen eingeleitet zu haben

Auch die unzähligen Arbeitsunfälle seien ein Grund für die Frauen, sich der Gewerkschaft anzuschließen. „Ich bin bei der Arbeit von einem Aufzug gefallen und sie ließen mich in der Notaufnahme mit der Anweisung zurück zu sagen, ich sei von einem Olivenbaum gefallen. Sie haben uns ständig bedroht“, sagt Nuran Karabulut, die 14 Jahre lang bei Agrobay gearbeitet hat – davon sieben Jahre lang unversichert. Viele Agrobay-Beschäftigte klagen auch über gesundheitliche Probleme wie Asthma, weil sie ihre Arbeit ohne die nötigen Schutzmaßnahmen gegen Staub, Chlor und Ammoniak verrichten müssen.

Doch trotz der schlechten Bedingungen wollen sie ihre Stellen zurück und vor allem die Frauen, alle zwischen 40 und 60 Jahre alt, organisieren jeden Tag den Widerstand vor dem Gewächshaus im Ortsteil Bergama. Aber auch das ist nicht einfach. Während des Agrobay-Widerstands ist es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei und der Gendarmerie gekommen. Die Videos der Arbeiterinnen, die von der Polizei angegriffen, zu Boden geworfen und in Gewahrsam geschleift wurden, sorgten im Netz für Aufregung. Mehrere von ihnen wurden dabei verletzt ins Krankenhaus gebracht.