Ulli Nissens Kampf für die Rechte des türkischen Oppositionellen Turgut Öker
Die Frankfurter SPD-Abgeordnete Ulli Nissen mit einem Foto des türkischen Oppositionspolitikers Turgut Öker, für dessen Recht auf freie Meinungsäußerung sie sich stark macht. (DBT/Henning Schacht)
Bedrohten Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern, Bürgerinnen und Bürgern im Ausland zu helfen: Für die Bundestagsabgeordnete Ulli Nissen (SPD) ist das nur die logische Fortsetzung ihrer Arbeit, die sie auch innerhalb ihres Wahlkreises in Frankfurt am Main, für Menschen hierzulande, tut. Der aus der Türkei stammende Turgut Öker, der seit mehr als 20 Jahren auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist froh, von ihr unterstützt zu werden. Die türkischen Behörden werfen ihm vor, als Redner auf Kundgebungen in Deutschland sowie in den sozialen Medien zum Terrorismus aufgerufen, Kritik an der türkischen Staatsführung und Regierung geübt sowie den Staatspräsidenten Erdoğan beleidigt zu haben.
Im Juni vergangenen Jahres wurde der Ehrenvorsitzende und Mitbegründer der alevitischen Gemeinde in Deutschland in Istanbul wegen Präsidentenbeleidigung zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, nachdem zuvor bereits eine Ausreisesperre gegen ihn verhängt worden war. Die Haftstrafe wurde später zwar in eine Geldstrafe umgewandelt, die Ausreisesperre wieder aufgehoben, doch wurde Öker kurz darauf zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt. An dem Terrorvorwurf sei rein gar nichts dran, seine Regierungskritik falle unter freie Meinungsäußerung, und „Präsidentenbeleidigung“ – ein solcher Straftatbestand sei einfach lächerlich, so die Bundestagsabgeordnete.
Engagement für die alevitische Religionsgemeinschaft
Zu den tiefer liegenden Gründen für die harte Reaktion der türkischen Führung auf alle Aktivitäten Ökers zähle, dass dieser der religiösen Minderheit der Aleviten angehöre, sich im In- und Ausland für seine Religionsgemeinschaft engagiere und in Deutschland und Europa Gemeindestrukturen aufgebaut habe, erklärt Nissen. In Ankara sei man zudem genervt davon, dass die Aleviten in Deutschland und anderen europäischen Ländern als Glaubensgemeinschaft anerkannt sind.
„In den Augen der türkischen Führung sind Menschen wie Turgut Öker unerwünschte Aktivisten. Präsident und AKP-Regierung fühlen sich von ihm bedroht, fürchten die Diversifizierung der türkischen Gesellschaft und die Erosion ihrer eigenen Machtposition. Daher versuchen sie, Öker irgendwie aus dem Verkehr zu ziehen.“
Oppositionsarbeit und Haftandrohung in der Türkei
Turgut Öker, der von 1999 bis 2012 als Bundesvorsitzender die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) vertrat, hatte entschieden, sein politisches Engagement in der Türkei fortzuführen. Von Juni bis November 2015 zog er als Abgeordneter der kurdischen Partei HDP in das türkische Parlament ein. Nachdem die Regierungsbildung in der Türkei scheiterte, wurden Neuwahlen angesetzt.
Für die Parlamentswahl im Jahr 2018 wurde er in Istanbul mit einem aussichtsreichen Listenplatz aufgestellt. Kurz darauf folgte die Anklage gegen ihn wegen Präsidentenbeleidigung aufgrund einer Rede während einer Gedenkveranstaltung. Öker hatte kritisiert, dass Erdoğan die dritte Bosporus-Brücke in Istanbul nach dem Sultan Selim Yavuz benennen wollte, der in der Geschichte als Alevitenmörder bekannt ist, erinnert sich Nissen.
„Ich bin fassungslos“
Für diese Kritik drohten ihm mehrere Jahre Haft. Daraufhin wurde Turgut Öker vom Wahlausschuss von den Wahlen ausgeschlossen. Am 18. Juni 2020 war er für seine Aussage zu elf Monaten und 20 Tagen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Haftstrafe wurde dann in eine Geldstrafe umgewandelt.
„Ich bin immer wieder entsetzt, dass Menschen für gar nichts ins Gefängnis geworfen werden. Turgut Öker hat sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt. Ich bin fassungslos, dass ihm für so eine Aussage mehrere Jahre Gefängnis gedroht hätten. Ich war froh, dass es jetzt ‚nur‘ eine Geldstrafe geworden ist. Aber immerhin in Höhe von etwa vier türkischen Monatsgehältern.“
Ökers Einsatz für die alevitische Gemeinde
Öker war 1973 nach Deutschland ausgewandert und hatte sich von seiner neuen Heimat Köln aus jahrzehntelang für seine Religionsgemeinschaft engagiert. Er begründete Gemeindestrukturen, setzte sich für die rechtliche, gesellschaftliche und politische Anerkennung sowie für die Integration der rund 700.000 in Deutschland lebenden Aleviten ein und ermutigte sie, in Deutschland, wo sie in einem Rechtsstaat leben, von ihrer Religionsfreiheit Gebrauch zu machen.
Die zweitgrößte Religionsgruppe in der Türkei werde von der türkischen Regierung diskriminiert, verfolgt, kontrolliert, so Nissen. Sogar über die Landesgrenze hinaus. Die türkische Führung wolle alevitische Geistliche zentral von der staatlichen Behörde für Religionsangelegenheiten ausbilden lassen und diese dann in Gemeinden im In- und Ausland einsetzen. So wolle Ankara die Kontrolle behalten.
Mahnwache für den deutsch-türkischen Politiker
Als Bundestagsabgeordnete sei sie von der alevitischen Gemeinde in Frankfurt im vergangenen Sommer gebeten worden, bei einer Mahnwache für den deutsch-türkischen Politiker und Religionsvertreter zu sprechen, berichtet Nissen. In ihrer kurzen Rede dort habe sie auf das Wirken Ökers für die Religionsfreiheit sowie auf seine Lage aufmerksam gemacht und sich für dessen Freilassung und Strafmilderung eingesetzt.
Bei einem solchen Ersuchen zuzusagen, sei für sie eine Selbstverständlichkeit, ja sie betrachte es sogar als eine Pflicht zu helfen, so die Politikerin, die sich bereits seit Jahren für bedrohte Menschenrechtler und verfolgte Kollegen in unterschiedlichen Ländern einsetzt. Öker, der während der Mahnwache in Frankfurt per Video aus der Türkei zugeschaltet werden konnte, sei ihr dafür sehr dankbar gewesen.
Öker ins PsP-Programm aufgenommen
Als Bundestagsabgeordnete kann Ulli Nissen ihrem Wirken noch mehr Nachdruck verleihen. Ende Juni vergangenen Jahres habe sie beantragt, Turgut Öker in das beim Menschenrechtsausschuss des Bundestages angesiedelte Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ (PsP) aufzunehmen. Am 9. Juli 2020 übernahm sie die Patenschaft für Öker im Rahmen dieses Programms. Mehr als 100 Abgeordnete engagieren sich dort mit Patenschaften für bedrohte Kolleginnen und Kollegen und für Menschenrechtsverteidiger weltweit.
Ihr Auftreten als Bundestagsabgeordnete, auch im Rahmen des PsP-Programms, trage dazu bei, Öffentlichkeit herzustellen und den Druck auf die türkische Regierung und die dortigen Behörden zu verstärken. So wie bei der Mahnwache. Vielleicht hat das ein bisschen geholfen, mutmaßt sie. Dass die türkische Justiz die Gefängnisstrafe in eine Geldstrafe umgewandelt habe, sei ein wichtiger Schritt.
„Politisch Druck machen, persönlich Mut machen“
„Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in der Türkei wissen, dass das, was sie tun, in unserem Blickfeld bleibt, und dass sie sich nicht alles erlauben können.“ Sie äußere sich öffentlich zu den von ihr betreuten Fällen in der Türkei und im Iran. Die Verantwortlichen über die Öffentlichkeit unter Druck zu bringen und sie auch diplomatisch, über das Auswärtige Amt und die Botschaften zu bearbeiten, sei das eine.
Ihnen persönlich Mut zu machen, das andere. So schreibe sie Geburtstagsbriefe ins Gefängnis. Das zeige der Verwaltung dort: Die Person ist nicht vergessen. Und wenn ein Brief tatsächlich seinen Adressaten erreicht, sei auch dies eine wertvolle moralische Unterstützung. „Ich freue mich, dass ich mein Mandat dazu nutzen kann, anderen Menschen zu helfen“, sagt Nissen. Wegen der Pandemie und der eingeschränkten Reisemöglichkeiten kümmert sie sich momentan vor allem von ihrer Heimat Frankfurt aus um ihre Patinnen und Paten.
Nissen behält Ökers Schicksal im Blick
Im Augenblick erscheine die Situation von Turgut Öker als nicht so dramatisch wie die anderer, die aufgrund ihres Einsatzes für Menschenrechte oder Religionsfreiheit bedroht, inhaftiert, gefoltert würden. Allerdings müsse man am Ball bleiben. Sie behalte das Schicksal Ökers weiter im Blick und signalisiere Politik und Behörden in der Türkei damit: Wir haben ihn nicht vergessen, überlegt euch genau, was ihr tut.
„Der Vorwurf der Präsidentenbeleidigung kann ganz schnell wieder auf dem Tisch liegen“, warnt Nissen. Dieser „Gummi-Straftatbestand“ gebe den Behörden erheblichen Spielraum, jederzeit etwas gegen Kritiker und Oppositionelle zu finden. „Wenn sie wollen, dann finden sie was: Nach diesem Motto handeln die Behörden in der Türkei.“ Man müsse sich dazu nur vergleichbare Fälle und das bisherige Handeln der türkischen Führung vor Augen führen.
Ulli Nissen: „Ich kann andere Kolleginnen und Kollegen nur ermutigen – und möchte hiermit auch an sie appellieren, eine Patenschaft im Rahmen des PsP-Programms zu übernehmen.“ Es bestehe die berechtigte Hoffnung, mit jedem einzelnen Fall etwas zu bewirken und den Menschenrechten und denjenigen, die sie verteidigen, wieder etwas mehr Raum zu geben. (ll/25.02.2021)