Türkei: Akşener sprengt Sechser-Tisch – Kılıçdaroğlu tritt wohl gegen Erdoğan an
Paukenschlag in der Türkei: Etwas mehr als zwei Monate vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat eine von sechs Oppositionsparteien das als „Sechser-Tisch“ bekanntgewordene Anti-Erdoğan-Bündnis verlassen. Mit Bedauern habe man festgestellt, dass das Bündnis die Fähigkeit verloren habe, den Willen des Volkes widerzuspiegeln, sagte die Vorsitzende der İyi-Partei, Meral Akşener, am Freitag. İyi ist laut Umfragen die zweitstärkste Kraft in dem Zusammenschluss, das erst am Vortag angekündigt hatte, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten als Herausforderer des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan geeinigt zu haben. Doch bereits am Abend hatten Unstimmigkeiten für Unruhe im Bündnis gesorgt.
Warum, wurde nun klar: Die İyi-Partei habe den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, wegen ihrer guten Umfragewerte vorgeschlagen. Beide sind Politiker der stärksten Oppositionspartei CHP. Damit sei man aber gescheitert, so die einstige Innenministerin, der ebenfalls Außenseiterchancen auf die Kandidatur eingeräumt worden waren.
Schadenfreude und Häme auf Seiten der AKP und MHP
Sie implizierte damit, dass die restlichen Parteien sich auf den CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu geeinigt haben, der ebenfalls als Kandidat gehandelt wurde und sich in einem ersten Statement gelassen und siegessicher gab. Wer letztlich gegen den Präsidenten antritt, wollte das Bündnis erst am kommenden Montag publik machen. Kılıçdaroğlu soll heute Vormittag ins Aufnahmestudio gegangen sein, sehr wahrscheinlich als Vorbereitung auf seine Kandidatur. „Persönlicher Ehrgeiz wurde der Türkei vorgezogen“, urteilte Akşener. Dafür habe man die İyi-Partei nicht gegründet. Sie rief İmamoğlu und Yavaş zur Kandidatur auf.
Die Ankündigung der Parteivorsitzenden kommt rund zehn Wochen vor den anvisierten Wahlen überraschend. Seit einem Jahr hatten die Parteien im Bündnis miteinander verhandelt. Noch Ende November war es Akşener selbst, die erklärte, dass „niemand die Kraft hat, das Bündnis zu sprengen“. Nun dürften sowohl sie als auch das Bündnis viel Kredit und Vertrauen beim Wähler verspielt haben. Die ersten Reaktionen aus dem Regierungslager sind vor allem von Schadenfreude geprägt. Besonders hämisch reagierten Politiker der MHP, aus der Akşener einst ausgetreten war, um İyi zu gründen. Bei der İyi-Partei fallen die Reaktionen gemischt aus. Es gibt sowohl Kritik an als auch Rückendeckung für Akşener.
Erdoğan hat historisch schlechte Umfrageergebnisse, aber auch keine der anderen Parteien vereint derzeit ausreichend Stimmen auf sich zur Ablösung der Regierung. Mit dem Bündnis verbanden viele Erdoğan-Kritiker die Hoffnung, die Stimmen so auf einen Kandidaten vereinen zu können. Ob Akşener jetzt eine eigene Kandidatur plant oder nicht, ist unklar. Ebenso, wie sie sich bei einer Stichwahl, bei der wahrscheinlich Erdoğan und Kılıçdaroğlu gegeneinander antreten werden, verhalten wird. Spekuliert wird auch über ein neues Bündnis, bestehend aus der İyi-Vorsitzenden und Muharrem İnce von der Memleket-Partei (dt.: Heimat).
Erdoğan bestätigt Wahltermin am 14. Mai
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen der verheerenden Erdbeben mit mehr als 45.000 Toten in der Türkei Anfang Februar statt. Staatschef Erdoğan hatte am Mittwoch verkündet, am 14. Mai als Wahltermin festhalten zu wollen.
Das nun aus fünf Parteien bestehende Bündnis will im Falle eines Wahlsiegs unter anderem das Präsidialsystem wieder in ein parlamentarisches System überführen, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit stärken und die Macht des Präsidenten beschneiden. Nach dem Rückzieher der İyi-Partei sitzen neben der größten Oppositionspartei CHP auch zwei Abspaltungen der AKP noch am Tisch: die DEVA-Partei von Ali Babacan und die Gelecek-Partei (dt. Zukunft), geführt von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu.
Auch wenn außer der CHP keine der Parteien Umfragen zufolge über drei Prozent kommen, ihre Unterstützung könnte sich in einem voraussichtlich engen Rennen dennoch als entscheidend erweisen. Für den Einzug ins Parlament gilt bei den kommenden Wahlen eine Hürde von sieben Prozent. Spannend zu beobachten sein wird, wie sich die pro-kurdische HDP nach der Akşener-Entscheidung verhalten wird, die nicht Teil des Sechser-Bündnisses ist. Der heutige Tag dürfte aber aktuell vor allem für Erdoğan von Nutzen sein.
Wahl im Erdbebengebiet wird zur logistischen Mammutaufgabe
Das Erdbeben hat laut Regierungsangaben knapp zwei Millionen Menschen vertrieben. Viele der Gebäude, in denen eigentlich Wahlen abgehalten werden, sind beschädigt. Wie die Infrastruktur für eine Abstimmung aussehen wird, ist noch nicht klar. Die Wahlen hätten regulär im Juni abgehalten werden sollen, Erdoğan hatte aber bereits vor Beginn der Erdbebenkatastrophe angekündigt, sie vorziehen zu wollen und dieses Vorhaben nun bestätigt.
dpa/dtj