Ein wiederholter Fall von sexuellem Missbrauch und der Zwangsverheiratung von Minderjährigen wirbelt aktuell die türkische Öffentlichkeit durcheinander.
„Die Töchter in unseren Familien trugen bei Familienfesten oder ähnlichen Veranstaltungen immer Brautkleider oder ähnliche pompöse Kleider.“
„Ich bin 19 Jahre alt und immer noch ledig. Keiner übt Druck auf mich aus.“
„Meine Schwester hat sich plötzlich sehr stark verändert.“
Mit diesen Worten haben die zwei Schwestern und der Bruder von H. K. Gümüşel die Medienberichte relativiert, in denen zuvor an die Öffentlichkeit kam, dass sie mit sechs Jahren mit einem 29-jährigen Mann zwangsverheiratet und viele Jahre sexuell missbraucht wurde.
Ordensführer verheiratet seine Tochter im Kindesalter mit Schüler (29)
Yusuf Ziya Gümüşel ist Führer der islamistischen Hiranur-Stiftung in der Türkei. Diese Stiftung gehört ideologisch zur Ismailağa-Gemeinschaft, einem religiösen Orden. Zuletzt tauchte der Name Gümüşels in der türkischen Presse im Zusammenhang mit seiner Tochter auf, die er im Alter von nur sechs Jahren mit dem eigenen Ordensschüler Kadir İ. verheiratet haben soll. Dabei war dieser 23 Jahre (!) älter als H. K. Gümüşel. Rund 20 Jahre nach ihrer Zwangsheirat als Kind hat sich das Opfer nun an die Öffentlichkeit getraut. Sie wandte sich an den Journalisten Timur Soykan von BirGün und erzählte offen von ihrer schlimmen Tortur.
Mitschnitt beweist Gümüşels Version
Auch besagter Vater Yusuf Ziya Gümüşel meldete sich zu Wort. Der Ordensführer, dessen Orden hin und wieder auch mit einer Sekte verglichen wird, gab an, dass seine Tochter psychische Probleme hätte und von einer gewissen Gruppierung fehlgeleitet worden sei. Sie habe aufgrund dieses Einflusses ihren Ehemann verlassen und sich am 12. Oktober 2021 von diesem scheiden lassen. Ihre Behauptungen würden nicht stimmen und seien Teil eines Plans, die Gemeinschaft unter Generalverdacht zu stellen. Doch bereits in der Anklageschrift tauchen handfeste Beweise auf, die die Version von H. K. Gümüşel bestätigen.
Ex-Ehemann: „Ich liebe dich, du verstehst das nicht“
Gümüşel ist ein Mitschnitt von einem offenbarenden Gespräch mit ihrem einstigen Peiniger gelungen. Darin fragt sie Kadir İ.: „Wären wir sicher glücklich miteinander geworden, wenn wir keinen Sex gehabt hätten, als ich 6 Jahr alt war?“ Dieser entgegnet: „Ja, da ist was dran. Aber mit ‚was wäre gewesen wenn‘ und so weiter klappt das nicht.“
H. K. Gümüşel: „Aber man wird traurig. Hast du mich nicht mehr gehen lassen, weil wir seit meinem 6. Lebensjahr Sex hatten?“ Kadir İ. daraufhin: „Wieso sollte ich dich denn gehen lassen? Ich liebe dich, du verstehst das nicht. Das ist genau der Punkt, den du nicht verstehst. Du bist dumm.“
Mit acht Jahren in der Pubertät
Ihr Ex-Mann beteuert in dem Mitschnitt, dass sie mit acht Jahren die Geschlechtsreife erlangt habe und die Heirat nach islamischem Verständnis somit legitim gewesen sei. Ähnlich äußerte sich auch schon mal der als „Cübbeli Ahmet Hoca“ bekannte Ahmet Mahmut Ünlü, einer der bekanntesten Repräsentanten der Ismailağa-Gemeinschaft. Demnach sei auch eine Heirat vor der Pubertät legitim. Sogar das Verheiraten direkt nach der Geburt sei zulässig, nicht jedoch der sexuelle Kontakt. Hierfür müsste die Person in die Pubertät kommen.
Cübbeli Ahmet spricht lieber über die PKK und LGBT-Szene
Der populäre Geistliche hat sich auch in Bezug auf den aktuellen Fall kurz zu Wort gemeldet. In einer Videobotschaft spricht Cübbeli Ahmet über vermeintliche Entführungen junger kurdischer Mädchen durch die terroristische PKK, die dazu geführt hätten, das HDP-Stadtverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Diese Mädchen seien durch die PKK mehrfach vergewaltigt worden. Außerdem regt sich Cübbeli über die LGBT-Szene auf, die doch die Kinder missbrauchen würde. Über die mit sechs Jahren verheiratete H. K. Gümüşel wolle er indes nicht sprechen, da es keine Belege hierfür gebe und der Fall vor Gericht sei.
Aufmerksame Ärztin hätte Gümüşel beinahe gerettet
In dem Mitschnitt zwischen H. K. Gümüşel und Kadir İ. wird in einem Abschnitt deutlich, dass der Tortur ein früheres Ende hätte bereitet werden können. Bei einem Arztbesuch habe die Ärztin die Polizei informiert. Diese hätten Kadir İ., Gümüşel und ihre Mutter mitgenommen und verhört. Zwar habe die Mutter die Ehe nicht bestritten, aber behauptet, dass das Mädchen älter sei als auf dem Papier.
Daraufhin hätten die Beamten auf einem Knochentest bestanden. „Im Polizeirevier, da habt ihr gesagt, dass ich älter sei oder?“ fragt das Opfer ihren Peiniger. „Ja, das haben wir. Sonst wäre ich für drei bis vier Jahre in Haft gekommen. Sowas verzeiht der Staat nicht“, so İ. Den Test habe übrigens jemand anderes absolviert.
Kläger fordern Haftstrafen für Ex-Mann, Vater und Mutter
Mittlerweile befasst sich die Justiz mit dem Fall, die Anklageschrift ist verfasst. Überwiegend aufgrund der Aussagen in dem Mitschnitt, der Gümüşel gelungen ist. Ausgehend davon werden lange Haftstrafe für Kadir İ., Vater Yusuf Ziya Gümüşel und Mutter Fatma Gümüşel gefordert. Für den Ex-Mann beantragt die Staatsanwaltschaft bis zu 67 Jahre 10 Monate und 15 Tage Haft, für den Vater und die Mutter jeweils 22 Jahre und 6 Monate. Die erste Gerichtsverhandlung ist auf den 22. Mai 2023 datiert. Wie die Verhandlung ausgehen wird, bleibt eine spannende Frage. Nicht zuletzt aufgrund des fragwürdigen türkischen Justizministers.
Bekir Bozdağ kein unbeschriebenes Blatt
Bereits zum zweiten Mal ist Bekir Bozdağ der oberste Gesetzeshüter der Türkei. In seiner ersten Amtszeit wurde er in einem ähnlichen Fall zitiert und verlor einen verhängnisvollen Satz vor laufender Kamera. Zwar ist in der Türkei das Mindestheiratsalter auf 18 Jahren festgelegt. Doch die AKP legte vor einigen Jahren einen Gesetzesentwurf vor, der dies verändern könnte. Dabei ging es um inhaftierte Männer, die im Gefängnis sitzen, weil ihre Ehefrauen zum Zeitpunkt der Eheschließung minderjährig waren.
Bozdağ verteidigte den Gesetzesentwurf und sprach vom „Einverständnis der Kleinen„, also der Minderjährigen, die gar nicht wüssten, dass eine solche Eheschließung unter diesen Umständen verboten sei. Wenn ihre Männer verhaftet würden, seien sie möglicherweise bereits Mutter und müssten ihre Kinder allein großziehen.
Das Internet vergisst nicht
Der Fall H. K. Gümüşel hat zu einer Hashtag-Aktion in der Türkei geführt. Unter #cocukistismarinahayir („Nein zum Kindesmissbrauch“) wird auf ihn aufmerksam gemacht. Auch die obige Aussage des aktuellen Justizministers wird derzeit wieder in Umlauf gebracht. „Und du sollst Justizminister sein? Tritt zurück!“ lautet einer von vielen Tweets zum Thema, der lagerübergreifend viele Menschen beschäftigt.
Es gibt aber auch Gegenstimmen zu diesem Hashtag. Dabei fällt auf, dass besonders gerne Bilder von Kindern auf LGBT-Märschen gepostet werden. Dabei ist es keine gute Idee, einen Missbrauch mit einem anderen zu vergleichen oder zu relativieren. Doch der Whataboutismus gehört auch in der polarisierten Türkei längst zum beliebten Mittel, um Diskussionen zu verwässern oder vom Kern der Problematik abzulenken.