„Deutschland hat noch keine nationale Abwehrstrategie“

 

Von Thorsten Fuchs/ RDN

Die Bundesregierung erwartet die Rückkehr von mehr als hundert Familienmitglieder der IS-Kämpfer. Deutschland sei auf dieses Szenario nicht vorbereitet, meint Daniel Heinke, Chef des Landeskriminalamts Bremen und Terrorismusforscher. Im Interview warnt er vor einer fehlenden Präventions- beziehungsweise Terrorabwehrstrategie.

Daniel Heinke leitet das Landeskriminalamt Bremen und ist Honorarprofessor für Terrorismusforschung an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Bremen.

Quelle: dpa

 

Herr Heinke, jetzt stehen die Familien der Dschihadisten im Fokus. Die Bundesregierung spricht von 100 Kindern von Kämpfern, die nach dem Zusammenbruch des IS vor der Rückkehr nach Deutschland stehen. Sind diese Kinder wirklich eine Gefahr?

Die Frage ist, wie Sie Gefahr definieren. Diese Kinder sind den größten Teil ihres bewussten Lebens in einer hoch ideologisierten, sehr gewaltbetonten Gesellschaft aufgewachsen. Wenn diese Kinder jetzt in unsere Gesellschaft kommen, dann müssen wir uns um sie kümmern, schon im Sinne des Kindeswohls. Wir müssen ihnen eine normale Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglichen – sonst kann von diesen Kindern tatsächlich eine reale Sicherheitsbedrohung ausgehen.

Sind die Behörden darauf vorbereitet?

Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Thema bei allen Verantwortlichen angekommen ist und sie sich Gedanken machen. Mir sind aber keine Programme größeren Umfangs bekannt, die sich speziell mit dieser Thematik auseinandersetzen. Und damit komme ich zu meinem Hauptkritikpunkt an dem bestehenden System: Deutschland hat immer noch keine nationale Präventions- beziehungsweise Terrorabwehrstrategie.

Es gibt in den Ländern doch zum Teil sehr engagierte Präventionsprogramme.

Ja, es gibt im ganzen Bundesgebiet zum Teil sehr erfolgreiche Programme und auch gute Beispiele für lokale Netzwerke. Aber Sie können nicht davon ausgehen, dass eine Person, die nach Deutschland zurückkommt, an dem einen Ort genauso behandelt wird wie an dem anderen – weil diese Programme eben nur auf lokaler Ebene abgestimmt sind, teilweise auf Länderebene, es aber keine bundesweite Abstimmung gibt. Das ist eine eindeutige Schwachstelle in der deutschen Sicherheits- und Präventionsarchitektur.

Es ist also Glückssache, wo ein Rückkehrer landet?

Wenn Sie es so ausdrücken wollen: Ja. Was auch eine Ressourcenvergeudung ist. Man könnte sich ein ständiges neues Ausprobieren ersparen.

Was müsste in einer solchen bundesweiten Strategie drinstehen?

Sie müsste einen systematischen Austausch in vertikaler Richtung, also zwischen Bund, Ländern und Kommunen, regeln, genauso wie in horizontaler Richtung, also zwischen Ressorts wie Bildung, Inneres und Justiz. Wenn es darum geht, Extremismus zu begegnen, müssen Schulbehörde, Polizei und Jugendämter zusammenarbeiten. Prävention ist eine Aufgabe, die viele Stellen betrifft.

Der Bund hat doch eine nationale Sicherheitsstrategie erstellt.

Die gibt es tatsächlich. Aber die heißt nur so. Der Bund hat sie einfach rausgehauen. Innere Sicherheit, Jugendhilfe, Fürsorge, das sind jedoch alles Themen, die in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen. Wenn der Bund hier eine Strategie entwickelt, dann führt es nicht besonders weit, wenn er die Länder nicht einbindet.

Terrorrazzien 2017

Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) in Karlsruhe hat im vergangenen Jahr 1210 Terrorverfahren eingeleitet – fünfmal so viele wie 2016. „Die Zahl der Verfahren explodiert“, sagt ein Sprecher der obersten Strafverfolgungsbehörde. Hauptgrund seien „Selbstbezichtiger“ aus Somalia und Afghanistan. Flüchtlinge würden aus Angst vor Abschiebung angeben, Terroristen gewesen und deshalb mit dem Tod bedroht zu sein.

Für Aufsehen sorgten 2017 spektakuläre Terrorrazzien:

  1. Januar: Durchsuchungen in fünf Bundesländern gelten mutmaßlich rechtsextremen „Reichsbürgern“. Die GBA wirft sieben von ihnen vor, bewaffnete Angriffe auf Polizisten, Asylsuchende und Mitglieder der jüdischen Gemeinde geplant zu haben. Die Ermittlungen dauern an.
  2. April: Die Bundesanwaltschaft lässt drei Bundeswehrsoldaten wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat verhaften. Sie sollen Attentate gegen hochrangige Politiker geplant haben, darunter Bundespräsident a. D. Joachim Gauck und Bundesjustizminister Heiko Maas. Am 12. Dezember erhebt die Behörde in Karlsruhe Anklage gegen den 28-jährigen Oberleutnant Franco A.
  3. August: Die GBA geht in einer Großrazzia in Mecklenburg-Vorpommern gegen ein mutmaßlich rechtsex­tremes Netzwerk in der Prepper-Szene vor. Die Ermittlungen gegen einen Polizisten und einen Anwalt laufen noch. Die Innenminister beschließen im Dezember, die Szene, die sich auf Katastrophen aller Art vorbereitet, bundesweit vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen.
  4. Dezember: Bei Razzien in Berlin und Sachsen-Anhalt werden vier mutmaßliche Islamisten verhaftet. Einer von ihnen stand nach RND-Informationen in Kontakt zum Berlin-Attentäter Anis Amri.

Und die Länder können sich nicht selbst einigen?

Das ist, trotz einer Bremer Initiative vor zwei Jahren, bislang nicht gelungen – mit dem Ergebnis, dass Land A Rückkehrer so behandelt und Land B so. Deutschland ist insoweit nicht optimal vorbereitet.

Die große Rückreisewelle deutscher IS-Kämpfer ist aber bisher ausgeblieben. Wie viele Rückkehrer erwarten Sie noch?

Von den mehr als 960 Personen ist ungefähr ein Drittel zurückgekehrt. Das ist längst nicht so viel, wie für das zweite Halbjahr 2017 erwartet worden war. Aber andererseits gilt: Irgendwo sind die noch. Denn wir haben gleichzeitig auch nur über 150 Islamisten Erkenntnisse, die in Syrien oder im Irak getötet worden sind. Das heißt: Wir sind immer noch sehr wachsam, weil wir damit rechnen, dass noch eine erhebliche Anzahl an Ausgereisten zurückkehren wird.

Es gibt eine größere Zahl von Islamisten, von denen man schlicht nicht weiß, wo sie sind.

Das ist richtig. Weil ja auch der Informationsaustausch mit Syrien wegen fehlender staatlicher Stellen extrem schwierig ist.

Reisen heute noch junge Leute aus Deutschland zum IS?

Es gibt eine deutlich geringere Ausreisedynamik, das ist nicht mehr mit den Hochzeiten 2014/15 vergleichbar. Aber es ist auch falsch, wenn teilweise suggeriert wird, es gäbe überhaupt keinen Zuzug mehr. Auch heute noch machen sich Personen auf den Weg und versuchen, sich dem IS oder anderen Organisationen anzuschließen, wenn auch in geringerem Umfang.

Trotz Gräueltaten und militärischer Niederlagen hat der IS seine Anziehungskraft also nicht verloren?

Genau. Wir befürchten im Moment eine Virtualisierung des Kalifats. Nachdem es physisch erheblich eingeengt ist, findet eine Rückverlagerung in den virtuellen Propagandaraum statt. Die Ideologie des IS ist weiter lebendig.

Von Thorsten Fuchs/RND