Afghanistan-Krise: „Lautes Schweigen finde ich fürchterlich“ – Grünen-Politiker Özdemir kritisiert muslimische Verbände

 
 
 

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Der frühere Grünen-Chef beklagt verharmlosende Äußerungen von Verbänden zu den Ereignissen in Afghanistan. Für viele Muslime sei das sehr ärgerlich.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime äußerte Kritik am Taliban-Vormarsch, doch der Zentralrat steht wegen einiger Mitglieder selbst in der Kritik. © dpa Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime äußerte Kritik am Taliban-Vormarsch, doch der Zentralrat steht wegen einiger Mitglieder selbst in der Kritik.

Der Grünen-Außenexperte Cem Özdemir erhebt schwere Vorwürfe gegen einige muslimische Dachverbände. „Wir erleben in der islamischen Welt einen Kampf jener, die die Werte der Aufklärung und Demokratie teilen, mit denen, die diese radikal ablehnen“, sagte Özdemir dem Handelsblatt.

Dieser Kampf sei auch in Deutschland zu beobachten, sagte Özdemir. „Das laute Schweigen einiger in den Dachverbänden hierzulande finde ich fürchterlich.“ Wenn es Äußerungen gebe, dann seien diese eher verharmlosend oder gar verständnisvoll. „Das ist ein Ärgernis für die vielen Muslime in Deutschland, die an unsere europäischen Werte glauben und gerade auch mit den Frauen in Afghanistan mitfühlen.“

Ihm falle auch auf, „wie sich die Hamas, der Iran und der türkische Präsident Erdogan geäußert haben, die erklären, welche theologische Verwandtschaft es zwischen der AKP-Regierung und den Taliban in Afghanistan gibt“. Das werde er nicht vergessen. Union und SPD sollten es auch nicht vergessen, mahnte der Grünen-Politiker.

Laut Eren Güvercin, freier Journalist und Mitarbeiter der muslimischen Alhambra Gesellschaft, hat sich in Deutschland der Zentralrat der Muslime deutlich und kritisch zu den Taliban geäußert. Die Alhambra Gesellschaft ist ein Zusammenschluss von Muslimen, die sich als Teil der europäischen Gesellschaft verstehen. Sie macht Muslimen unter anderem Angebote zur politischen Bildung.

Der Vorsitzende des Zentralrats, Aiman Mazyek, nannte die Ereignisse in Afghanistan ein „Desaster“. Die „allermeisten Muslime – und die Afghanen ohnehin – wollen keinen Steinzeit-Islam, gepaart mit Stammesdoktrin.“ Und die finde sich nun wieder an der Macht.

Muslimische Verbände in der Kritik

Der Zentralrat vertrete jedoch nicht einmal ein Prozent der muslimischen Gemeinden in Deutschland, sagte Güvercin dem Handelsblatt. Entschieden größer seien beispielsweise die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) und die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG).

Die Ditib steht seit Jahren in der Kritik, weil sie vom türkischen Staat abhängig ist. In einigen deutschen Moscheen wurde etwa Ende 2019 für den Sieg beim Einmarsch der türkischen Armee in die kurdischen Gebiete Syriens gebetet. Die IGMG wird teilweise von Verfassungsschutzbehörden in Deutschland beobachtet und als islamistisch eingestuft.

Auch der Zentralrat der Muslime ist jedoch für seine türkisch-nationalistischen Mitglieder kritisiert worden. So befinden sich unter den teilnehmenden Vereinen die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (Atib), die den rechtsextremistischen „Grauen Wölfen“ angehört und deshalb vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Der Liberal-Islamische Bund, der für sich in Anspruch nimmt, liberale Muslime zu vertreten, verurteilte den Vormarsch der Taliban: „Wir sind in Sorge um die afghanische Zivilbevölkerung, die ein Recht darauf hat, in Würde und Freiheit in einer Demokratie zu leben. All dies ist durch die menschenfeindliche Ideologie der Taliban gefährdet.“

„Die Verbände müssen der Heroisierung der Taliban-Bewegung, die sich in den sozialen Medien beobachten lässt, entschieden entgegentreten“, forderte Experte Güvercin. Wenn radikale Bewegungen wie die Taliban das islamische Emirat ausriefen, dann erwarte er, „dass die großen muslimischen Verbände, die sich als Religionsgemeinschaft verstehen, sich zu diesem Thema auch theologisch positionieren und nicht nur die deutsche Außenpolitik kritisieren“.

Özdemir kritisiert Außenminister Heiko Maas

Özdemir forderte im Handelsblatt eine Aufarbeitung des Afghanistaneinsatzes  – spätestens nach der Bundestagswahl. „Diese Aufarbeitung muss überparteilich und zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschehen“, sagte Özdemir. Nur so könne man es in Zukunft besser machen.

„Wir brauchen eine hochrangige Taskforce ‚Lagebild‘, die die gesamte Informationsbeschaffung und -auswertung unter die Lupe nimmt“, sagte der Grünen-Politiker, dem Ambitionen auf den Posten des Außenministers nachgesagt werden.

Den jetzigen Außenminister Heiko Maas (SPD) bezeichnete Özdemir am Freitag als „Belastung für den Wahlkampf des SPD-Spitzenkandidaten Olaf Scholz“. Maas versuche, „die ganze Schuld von sich zu schieben Richtung Kanzleramt“.

Angesichts der tragischen Bilder aus Afghanistan sei das ein besonders „unwürdiges Schauspiel“. Niemand in der Bundesregierung habe sich mit Ruhm bekleckert. „Nicht im Kanzleramt, nicht im Innenministerium, nicht im Verteidigungsministerium und schon gar nicht der Minister im Auswärtigen Amt.“

Einen Rücktritt des Außenministers forderte Özdemir jedoch nicht. „Es sind schon andere in dieser Bundesregierung bei akutem Versagen nicht zurückgetreten“, so der Grünen-Politiker. „Es sind nur fünf Wochen bis zur nächsten Bundestagswahl. Ein Rücktritt würde nun nichts mehr bringen.“ Deswegen sei auch die eigentlich zwingende Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zum jetzigen Zeitpunkt zusammen mit den ganzen Rücktrittsforderungen „nicht mehr als Klamauk“. 

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock befürwortete am Sonntag einen Untersuchungsausschuss. Der Ausschuss müsse kommen, unabhängig davon, wer die nächste Bundesregierung anführe. „Das, was an Desaster passiert ist, das können wir nicht einfach verschweigen“, sagte Baerbock im ARD-„Sommerinterview“. Es gehe darum, aus Fehlern zu lernen. FDP und Linke hatten zuvor bereits signalisiert, einen Untersuchungsausschuss zu begrüßen.

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