Homophobe Predigt in der Türkei – und Ditib schweigt
Frederik Schindler Welt
Lassen Homosexualität und außereheliche Beziehungen ganze „Generationen verrotten“? Führen sie zu Krankheiten? Gibt es gar einen Zusammenhang zum Coronavirus? Die ersten beiden Fragen hatte Ali Erbas, der Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, am Freitag in seiner Predigt zu Beginn des Fastenmonats Ramadan offen als Fakt hingestellt, den dritten Punkt – den Zusammenhang zu Corona – nur angedeutet. Aber teilt der Moscheeverband Ditib diese Aussagen? Schließlich ist Erbas nicht nur Chef der einflussreichen Religionsbehörde, er ist auch Vorgesetzter von mehr als 1100 Imamen, die in den Ditib-Moscheen in Deutschland tätig sind und von der türkischen Regierung ernannt und bezahlt werden.
Wie man bei Ditib darüber denkt, bleibt aber, vorerst jedenfalls, unbekannt. Anfragen der WELT ließ der Dachverband unbeantwortet.
Eine öffentliche Kritik wäre allerdings überraschend, zumal sich inzwischen der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in die Debatte eingemischt hat. Die Äußerungen des Diyanet-Chefs seien „vollkommen korrekt“, aber nur für Muslime bindend, sagte Erdogan am Montagabend. Für alle anderen handle es sich lediglich um eine Meinungsäußerung.
Unwirsch reagierte er auf die Kritik von Bürgerrechtsorganisationen und Oppositionspolitikern: „Ein Angriff auf den Präsidenten der Religionsbehörde ist ein Angriff auf den Staat.“ Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf „Herabwürdigung religiöser Werte“ gegen die Anwaltskammern Ankara und Diyarbakir, die dem Diyanet-Chef Volksverhetzung vorgeworfen hatten.
Deutsche Politiker verfolgen derweil diese Entwicklungen mit Sorge. Die Äußerungen des Diyanet-Chefs zeigten „einmal mehr, dass die Situation für LGBTI-Personen in der Türkei unverändert sehr schwierig, ja gefährlich ist“, sagte Michael Roth (SPD), Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, WELT. Ein wenig optimistisch stimmten ihn jedoch die „kritischen Reaktionen der türkischen Zivilgesellschaft“.
Scharfe Kritik formuliert auch Omid Nouripour, der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag: Diese Aussagen zeigten, „wie sehr sich die Politik der AKP von Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz entfernt“ habe. Der Wunsch Präsident Erdogans, das Leben der Menschen nach „einer von ihm definierten Frömmigkeit einzuschränken“, sei ein Missbrauch von Religion. „Homophobie gehört für Menschen mit einem autoritären Staatsverständnis zum guten Ton“, meint auch der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. Solche Formen der Desinformation seien für die Bekämpfung der Pandemie gefährlich, weil sie andere Bemühungen konterkarieren könnten.
Eine Stellungnahme der Ditib fordert Mathias Middelberg, der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Von den in Deutschland tätigen Religionsvertretern erwarten wir, dass sie sich zu den hier geltenden Grundwerten wie Freiheit und Toleranz bekennen und diese auch vermitteln“, sagte er WELT. Dies gelte „auch und gerade für Imame, die hier bei uns für Ditib tätig sind“. Die Ditib habe in der Vergangenheit „leider viel Vertrauen verspielt. Dieses gilt es zurückzugewinnen
Sevim Dagdelen, die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, sieht in den Äußerungen des Diyanet-Chefs einen „erneuten Beleg dafür, dass sich das Erdogan-Regime weiter in Richtung Islamismus und antidemokratischer Muslimbruderschaft radikalisiert“. Und sie lenkt den Blick auf den islamischen Religionsunterricht in Deutschland: Die Zusammenarbeit mit Ditib beim islamischen Religionsunterricht müsse eingestellt werde. „Für Hetze gegen Homosexuelle darf es in unseren Schulen keinen Platz geben.“
Ditib ist in mehreren Bundesländern an der Konzeption des islamischen Religionsunterrichts beteiligt. Im Saarland läuft ein Modellversuch, in Niedersachsen gehört Ditib einem Beirat für den Islamunterricht an Grundschulen an. Seit 2017 gibt es jedoch Streit, da der Beirat sich weigert, einen Landtagsbeschluss umzusetzen, der besagt, dass im Unterricht die sexuelle Vielfalt berücksichtigt werden müsse. In Nordrhein-Westfalen wurde die Zusammenarbeit ausgesetzt.
In Hamburg und Bremen hingegen bestehen Staatsverträge mit Ditib, die dort als Religionsgemeinschaft anerkannt und am „Religionsunterricht für alle“ beteiligt ist. Und in Rheinland-Pfalz wurde Anfang April eine „Zielvereinbarung“ mit Ditib und anderen Islamverbänden geschlossen. Ein Sprecher des Kulturministeriums in Mainz sagte WELT, dass in den Gesprächen mit Ditib auch „die Einstellung zur Homosexualität thematisiert“ worden sei.
Dennoch wird aus der Opposition des von SPD, FDP und Grünen regierten Bundeslandes die Vereinbarung infrage gestellt. Die Äußerungen des Diyanet-Chefs seien „unerträglich“ und zeigten einmal mehr, dass eine Zusammenarbeit mit Ditib schwer vorstellbar sei, sagte der CDU-Fraktionschef im Mainzer Landtag, Christian Baldauf. Sein Hamburger Kollege Dennis Thering ergänzte: „Wer Menschen aufgrund ihrer Sexualität beleidigt, ist kein geeigneter Gesprächspartner für einen interkulturellen Austausch und schon gar kein akzeptabler Vertragspartner der Stadt.“ Es sei „unbegreiflich“, warum Hamburg die Staatsverträge nicht längst gekündigt habe.
Auch der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands (LSVD) sorgt sich um den Islamunterricht an deutschen Schulen: „Wir erwarten, dass Schulleitungen sicherstellen, dass an ihren Schulen alle Kinder und Jugendlichen sicher und angstfrei lernen können“, sagte die LSVD-Vorsitzende Henny Engels.
In Hessen hat sich die schwarz-grüne Landesregierung in der Ditib-Frage nun festgelegt: Die Zweifel an deren Unabhängigkeit von der türkischen Regierung hätten nicht ausgeräumt werden können, sagte Kultusminister Alexander Lorz (CDU) am Dienstag in Wiesbaden. Man werde die 2012 begonnene und im vorigen Jahr vorläufig ausgesetzte Zusammenarbeit beim Religionsunterricht beenden.