Islamismus in sozialen Medien: Die neue Generation der „Tiktok-Dschihadisten“
Radikale Chatgruppen
Islamismus in sozialen Medien: Die neue Generation der „Tiktok-Dschihadisten“
Sie sind jung, radikalisieren sich im Internet und bekommen ihre Befehle aus dem Ausland. Islamistische Chatgruppen sind eine zunehmende Bedrohung.
München – Vieles an diesem Vorgang erinnert an Wien: Im November 2023 taucht in einer islamistischen Chatgruppe ein Video auf. Darin wird ein Anschlag angekündigt, bei dem Ungläubige sterben sollen. Kurz darauf nehmen die Ermittler einen jungen Deutsch-Afghanen im Rheinisch-Bergischen-Kreis (Nordrhein-Westfalen) fest.
Der junge Kerl, erst 15 Jahre alt. Er wird im Juni dieses Jahres zu vier Jahren Jugendhaft verurteilt. Erst vor ein paar Tagen bekommt sein tschetschenischer Komplize (17) vor dem Landgericht Neuruppin (Brandenburg) die gleiche Strafe. Die beiden hatten sich im Netz kennengelernt.
In radikale Chatgruppen konkretisieren sich gewalttätige Ideen unter Ausschluss der Öffentlichkeit
Der Fall wirft ein Schlaglicht darauf, wie der moderne islamistische Terrorismus inzwischen funktioniert. Gleichgesinnte findet man nicht mehr unbedingt in dubiosen Moscheen in großstädtischen Hinterhöfen, wie es beispielsweise vor dem 11. September 2001 bei der Hamburger Terrorgruppe um Mohammed Atta der Fall war. Man trifft und radikalisiert sich im Netz – und wird dort aus dem Ausland gesteuert.
Die Pläne der Jugendlichen waren noch in einem frühen Stadium, aber doch konkret: Mit einem Lkw wollten die beiden über den Weihnachtsmarkt in Leverkusen-Opladen rasen. „Diejenigen Weihnachtsmarktbesucher, die dadurch nicht sofort getötet worden wären, hätten sie im Anschluss mit Messern erstechen wollen“, berichtete das Landgericht Neuruppin nach seinem Urteil. Die Verhandlungen fanden in beiden Fällen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt – wegen des jugendlichen Alters der beiden Täter.
„Tiktok-Dschihadisten“ erhalten laut Staatsschutz Anweisungen aus dem Ausland
Experte Peter R. Neumann, der am Kings College in London lehrt, spricht von „einer neuen Täterdemografie“. Er nennt sie „Tiktok-Dschihadisten“. „Die zentralen Akteure des Islamischen Staates und von El Kaida erhalten ihre Anweisungen aus dem fernen Ausland“, sagt Omar Haijawi-Pirchner, der in Österreich die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) leitet, die federführend an der Aufdeckung der Terrorpläne in Wien beteiligt war.
Dieses Phänomen beschreibt auch das 60 Seiten starke „Lagebild Islamismus“, das der NRW-Verfassungsschutz im Januar veröffentlicht hatte. Extremistische Salafisten orientierten sich im Auftreten inzwischen eher an populären Influencern. Anstelle anspruchsvoller theologischer Diskurse gebe es heute „ein betont lockeres Auftreten, das häufig von Vorbildern aus Gangster-Rap, Kampfsport und kriminellem Milieu beeinflusst ist“. Einzelne Akteure haben mehr als 450 000 Follower auf Tiktok. Den Fahndern erschweren aber oft harte deutsche Datenschutzregelungen die Arbeit im Netz.
Bayernweit 730 Personen dem salafistischen Spektrum zugerechnet
Als besonders gefährlich gilt den Fahndern inzwischen der IS-Ableger in Afghanistan und Pakistan: „Islamischer Staat Provinz Khorasan“, kurz ISPK. Dieser steckte auch hinter der großen Attacke auf einen Konzertsaal nahe Moskau, bei der im März mindestens 140 Menschen starben. Auch in Wien, wo eine hohe Summe Falschgeld gefunden wurde, deutet vieles auf organisierte Strukturen und Hintermänner hin. Nach Ansicht von Experten hat sich die Gefahr seit dem Hamas-Überfall am 7. Oktober und der israelischen Reaktion darauf deutlich erhöht. Die Zahl der vereitelten und ausgeführten Anschläge in Europa habe sich im Vergleich zu 2022 mehr als vervierfacht.
Laut Landesamt für Verfassungsschutz werden aktuell bayernweit 730 Personen dem salafistischen Spektrum zugerechnet, der bedeutendsten islamistischen Strömung. „Der Anteil der 15- bis 25-Jährigen in der salafistischen Szene liegt aktuell bei rund zwölf Prozent“, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) unserer Zeitung. Damit werde sich auch der Verfassungsschutzbericht fürs erste Halbjahr 2024 beschäftigten, den er kommende Woche vorstelle, sagte der Minister. „Vor allem bei Jugendlichen stellt der Verfassungsschutz fest, dass sich diese gewaltbereiter und radikalisierter zeigen als in den Jahren zuvor.“