Kampf gegen Antisemitismus: „Ich bin nicht alarmistisch, sondern konsequent“

Artikel von Matthias Trautsch  FAZ

 

 

Mit Israelflagge: Uwe Becker demonstriert im Mai 2023 gegen das Konzert von Roger Waters in der Frankfurter Festhalle.

Mit Israelflagge: Uwe Becker demonstriert im Mai 2023 gegen das Konzert von Roger Waters in der Frankfurter Festhalle. © dpa

 

Seit 2019 ist Uwe Becker Beauftragter der Hessischen Landesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus. Zu seinen Aufgaben gehört es, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Als Bindeglied zu den jüdischen Gemeinden entwickelt er Initiativen gegen Judenhass. Er fungiert als Ansprechpartner für Opfer von Judenfeindlichkeit. Der Vierundfünfzigjährige ist im Frankfurter Stadtteil Nieder-Eschbach aufgewachsen, wo auch seine politische Laufbahn begann. Er war Vorsitzender der CDU-Stadtverordnetenfraktion und des Kreisverbands, Sozialdezernent, Kämmerer und Bürgermeister, außerdem Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Seit 2022 ist er Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten. Die Oberbürgermeisterwahl 2023 verlor er in der Stichwahl gegen Mike Josef (SPD).

Um meine Nähe zu den Themen darzustellen, für die ich in Hessen verantwortlich bin – und das ist zuvorderst das jüdische Leben. Für das jüdische Leben einzustehen, es zu vermitteln und zu vertreten, dazu gehört eben auch der Kampf gegen den Antisemitismus.

Kann man nicht auch für jüdisches Leben eintreten, ohne selbst Kippa zu tragen? Es handelt sich doch um ein religiöses Symbol. Und Sie sind ja kein Jude, sondern katholischer Christ.

Ich trage die Kippa nicht ständig, sondern nur aus besonderen Anlässen, um damit Akzente zu setzen. Das habe ich auch schon vor meiner Zeit als Antisemitismusbeauftragter so getan, um meine Solidarität zu zeigen. Aber natürlich muss jeder für sich selbst entscheiden, auf welche Weise er das tut.

Aber Sie haben schon einmal alle männlichen Frankfurter aufgerufen, einen Tag lang Kippa aufzusetzen. Warum?

Das war nach einem Angriff auf einen Juden in Berlin. Ich wollte den Menschen nahebringen, dass es Solidarität mit Juden eben nicht nur im Konjunktiv gibt, dass das nicht nur eine Haltung im warmen Wohnzimmer ist, sondern dass es tatsächlich die Möglichkeit gibt, sich selbst zu positionieren, Flagge zu zeigen, Gesicht zu zeigen, in dem Fall eben: Kippa zu zeigen

 

Als Antisemitismusbeauftragter stehen Sie in engem Kontakt zu den jüdischen Gemeinden: Wird das Kippa-Tragen dort auch als Zeichen der Solidarität geschätzt?

Ich persönlich erhalte darauf durchgängig positives Feedback. Natürlich kann man immer die Frage stellen, ob Symbole allein ausreichen. Darauf würde ich sagen: Das tun sie nicht. Aber umgekehrt wird in Symbolen auch Haltung deutlich, und das ist für mich wichti

Ich frage nach, weil es in letzter Zeit mehrere Fälle gegeben hat – jüngst den des Publizisten Fabian Wolff –, in denen sich nicht jüdische Deutsche als Juden ausgaben. Haben Sie, wenn Sie öffentlich mit Kippa oder Davidstern auftreten, keine Angst vor dem Vorwurf der Überidentifikation oder kulturellen Aneignung?

Der Unterschied ist, dass diese Personen sich als etwas ausgegeben haben, was sie nicht sind. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich nutze die Kippa nicht als durchgängiges Instrument, sondern um in ganz bestimmten Situationen Gemeinschaft herzustellen. Und natürlich trage ich sie zum Beispiel bei Besuchen in Synagogen, wo es ja auch dem religiösen Respekt geschuldet ist, dass man als Mann eine Kopfbedeckung trägt.

Israelkritikern wird oft der Vorwurf gemacht, sie unterschieden nicht zwischen dem Staat Israel und den Juden. Sie selbst engagieren sich für jüdisches Leben in Deutschland, aber zugleich auch für den Staat Israel, etwa in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Gelingt es Ihnen, diese Rollen zu trennen?

Sie haben recht, dass diejenigen, die Antisemitismus verbreiten, die Dinge häufig in einen Topf werfen. Man darf jüdisches Leben in Deutschland nicht mit Israel gleichsetzen. Man kann es aber umgekehrt davon nicht trennen und muss sehen, dass es eine Nähe des Judentums zum Staat Israel gibt, sozusagen zu dem, was dieses Land ausmacht. Es gibt eine Verbundenheit, eine Brücke von Juden in Deutschland und Europa in das Heilige Land. Gerade deswegen wird häufig der Umweg über Israelkritik gewählt, um eigentlich antisemitische Botschaften zu setzen. Ich persönlich sehe mich aber sehr gut in der Lage, diese Dinge inhaltlich und politisch zu trennen.

Sie haben einmal gesagt: „Wo der Zeigefinger auf Israel ausgestreckt wird, meint die übrige Hand auch jüdisches Leben bei uns.“ Heißt das, man kann Israel nicht kritisieren, ohne die Juden in Deutschland mitzumeinen?

Es geht um Fälle, in denen der Zeigefinger auf Israel als Gesamtstaat ausgerichtet wird. Natürlich kann man über israelische Politik, Entscheidungen der israelischen Regierung – aktuell zum Beispiel die Frage der Justizreform – kontrovers diskutieren. Aber es geht mir um Fälle, in denen Israel als Zielscheibe genutzt wird, in denen man unter dem Deckmantel der politischen Kritik das Kollektiv in den Blick nimmt, das Existenzrecht Israels infrage stellt. Zum Beispiel, wenn von einem „freien Palästina vom Fluss bis zum Meer“ gesprochen wird

Ja, diese Forderung nach einem angeblich freien Palästina vom Fluss bis zum Meer schließt das gesamte Staatsgebiet Israels sein. Da geht es nicht mehr um politische Unabhängigkeit, Zweistaatenlösungen und Ähnliches. Wenn ich diese Parole rufe, dann geht es um die Auslöschung des Staates, dann geht es darum, dass es zwischen Jordan und Mittelmeer keinen jüdischen Staat mehr geben soll. Und das ist genau der Punkt, wo ich sage: Es ist ein Finger auf Israel ausgerichtet, aber der Rest der Hand zeigt auf jüdisches Leben hierzulande.

Am 29. Juni gab es an der Gedenkstätte Frankfurter Großmarkthalle einen Streit zwischen einer jüdischen Besuchergruppe und Jugendlichen. Schon wenige Stunden später ist die Stadt mit einer Mitteilung an die Öffentlichkeit gegangen, in der von einem „antisemitischen Angriff“ die Rede war. Sie werden darin unter anderem mit der Forderung nach schnellen und harten rechtlichen Konsequenzen zitiert. Nach Darstellung der Polizei handelte es sich eher um einen zufälligen Alltagskonflikt, zudem hätten sich die Jugendlichen gleich danach entschuldigt. Haben Sie überreagiert?

Man muss das in einen Kontext von Vorfällen stellen, die es ja leider an der Gedenkstätte Großmarkthalle faktisch gab. Und die ersten Schilderungen dieses Vorfalls am 29. Juni deuteten sehr darauf hin, dass es hier gezielt einen Angriff auf die Besuchergruppe gegeben hat. Wenn sich der Sachverhalt im Rahmen der weiteren Ermittlungen anderweitig aufklärt, wird man die Schlussfolgerungen anpassen müssen. Dennoch ist daran zu erinnern, dass es eine besondere Sensibilität an diesem Ort geben muss. Es gab diese problematischen Tanzveranstaltungen in der Nähe der Gedenkstätte, und es gab weitere Beispiele für einen nicht respektvollen Umgang. In diese Reihe hat sich der jüngste Vorfall scheinbar eingefügt.

Wäre es besser, künftig mit Stellungnahmen abzuwarten, bis der Sachverhalt geklärt ist?

Nicht in dem Sinne, dass an einem Ort wie der Großmarkthalle ein grundsätzlich anderes Verhalten zu erwarten ist. Auch Jugendliche müssen eine Achtung vor dem zeigen, was dort stattgefunden hat.

Aber ist es richtig, jedes unangemessene Verhalten gleich als Antisemitismus zu brandmarken? Nutzt sich dieser Vorwurf dadurch nicht ab?

Das glaube ich nicht. Überhaupt habe ich nicht den Eindruck, dass zu viel öffentlich über das Thema gesprochen wird. Wir hatten im letzten Jahr in Hessen knapp über 170 gemeldete antisemitische Vorfälle, und die Dunkelziffer ist hoch. Ich glaube nicht, dass das den Menschen wirklich bewusst ist. Angesichts der Entwicklung ist Wachsamkeit und schnelles Reagieren wichtig. Auch wenn wir in einem konkreten Fall aufgrund der bis dahin vorliegenden Informationen etwas zu scharf in der Einordnung gewesen sein sollten, ist es grundsätzlich richtig, wenn wir uns deutlich, konsequent und auch nicht zu spät äußern. Manche sagen: Regt euch nicht auf. Meine Meinung ist: Wir müssten uns noch viel mehr aufregen. Es kann nicht sein, dass wir wegschauen, bloß weil in einer Grauzone vielleicht einmal eine Aussage zu früh kommen könnte.