Aufgewachsen mit dem Judenhass – ein Dilemma für die deutsche Politik
|
Bei den Versammlungen sollte es offiziell um Solidarität für die Palästinenser in Nahost gehen. Doch am Ende standen der Hass gegen Juden und den Staat Israel im Vordergrund. Auf Kundgebungen in mehreren deutschen Städten wurden am Wochenende unter den Tausenden Teilnehmern immer wieder israelfeindliche sowie antisemitische Hetze verbreitet und das Existenzrecht Israels verneint.
In Berlin riefen junge Männer am Samstag etwa auf Arabisch: „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden, Mohammeds Armee wird zurückkehren“ (Verweis auf einen Feldzug des islamischen Propheten gegen die jüdische Siedlung Chaibar, d. Red.) – „Die Intifada ist die Lösung. Wir brauchen keine friedliche Lösung“ – „Beschießt Tel Aviv.“ Es wurden selbst gemachte Schilder hochgehalten, auf denen Hassparolen standen wie „Baby Killer Israel“, „Zionism = Terrorism“ und „Israel does not exist“ („Israel existiert nicht“).
Auch ein Vergleich mit der systematischen millionenfachen Judenermordung im Nationalsozialismus wurde gezogen: „Stop doing what Hitler did to you.“ Als die Versammlung aufgelöst wurde, kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige warfen Flaschen und Pflastersteine auf Beamte und Reporter.
In Köln skandierten am Samstagnachmittag arabischstämmige Teilnehmer „Israel Kindermörder“; eine junge Frau zeigte ein Plakat mit der Aufschrift „Well done Israel, Hitler would be proud“ („Gut gemacht, Israel, Hitler wäre stolz“); der jüdische Staat begehe „ethnische Säuberungen“. Zeugen meldeten der Polizei, dass jemand erfolglos versucht habe, eine Israel-Flagge zu entzünden. Der mutmaßliche Täter konnte entkommen. In Köln kam es, abgesehen von einigen Rangeleien und wenigen Festnahmen, nicht zu größeren Auseinandersetzungen.
Die zahlreichen Raketenangriffe der Hamas auf Israel und die Gegenschläge wirken sich radikalisierend auf die arabischstämmige Community in Deutschland aus. Bei spontanen Versammlungen und angemeldeten Pro-Palästinenser-Demos sehen offenbar viele eine günstige Gelegenheit, ihren Hass auf Juden offener denn je zu zeigen. Vor mehreren Synagogen wurden vergangene Woche Israel-Flaggen verbrannt; bei einer spontanen Versammlung in Gelsenkirchen riefen die Teilnehmer „Scheißjuden“.
„Hohe Emotionalisierung bei arabischstämmigen Jugendlichen“
Es wird ein Juden- und Israelhass sichtbar, den etwa der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir als „migrantischen Antisemitismus“ bezeichnet. Bei den Demos prägt eine große Anzahl wütender junger arabischstämmiger Männer das Bild, wobei neben den palästinensischen Fahnen auch vereinzelt die Flagge der Türkei zu sehen ist.
„Schon jetzt sehen wir eine hohe Emotionalisierung und Mobilisierung vor allem bei arabischstämmigen Jugendlichen, aber auch bei türkischen Rechtsextremisten. Dabei geht es allerdings nicht um Kritik an Israel. Die verbindende Klammer ist blanker Antisemitismus, den wir mit allen Mitteln des Rechtsstaats konsequent verfolgen“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) WELT AM SONNTAG.
In Köln versuchten Demo-Ordner am Samstag, die wütende Menge zu disziplinieren, damit sie den erforderlichen Corona-Mindestabstand einhielt und es nach der vorzeitigen Auflösung nicht zu körperlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Hetzerische Plakate und Rufe blieben jedoch unbeanstandet.
Auch die Einsatzkräfte reagierten letztlich darauf, dass die einigen Hundert Teilnehmer auf dem Heumarkt zu dicht beieinanderstanden und damit gegen die Auflagen verstießen. Die vorzeitige Auflösung hielt die Einsatzkräfte dann lange in Atem, weil sich immer wieder Gruppen mit Palästinenser-Flaggen zwischen Heumarkt und Kölner Dom zusammenrotteten und keinerlei Respekt vor der Staatsgewalt zeigten.
Dass es in Nordrhein-Westfalen und Berlin zu solchen Eskalationen kommt, ist wenig überraschend, denn dort wurden die Integrationsprobleme einer großen arabisch- und türkischstämmigen Community in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich.
In Stellungnahmen für WELT verurteilen Vertreter der Bundestagsfraktionen einhellig den Antisemitismus. Sie beklagen eine nicht ausreichende beziehungsweise gescheiterte Integrationspolitik.
„Staat darf nicht einknicken und zurückweichen“
Die Frage ist, wie man konkret auf solche Eskalationen reagieren sollte. Der politische Druck wächst nun auf die kommunalen Ordnungsbehörden, bei der Anmeldung von Versammlungen und bei Verstößen strenger vorzugehen.
Großes Unverständnis herrscht dabei fraktionsübergreifend angesichts der Entscheidung der Stadt Hagen, aus Gründen der „Deeskalation“ eine bereits gehisste Israel-Fahne wieder abzuhängen. „Der Staat darf nicht einknicken und zurückweichen, wenn er Zeichen setzt“, sagte SPD-Bundestagsfraktionsvize Dirk Wiese auf WELT-Anfrage und mahnte einen ausreichenden Schutz durch die Polizei an.
Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Konstantin Kuhle, bewertet die Entscheidung in Hagen als ein „Armutszeugnis angesichts des grassierenden israelbezogenen Antisemitismus. Wenn das Hissen der Flagge Israels zu Sicherheitsproblemen führt, kann die Antwort nicht darin bestehen, den Aggressoren nachzugeben“, sagte Kuhle WELT.
Nach Ansicht der AfD-Fraktion muss der Hebel „bereits im organisatorischen Vorfeld solcher Demonstrationen angesetzt werden, soweit dieses gewalttätige beziehungsweise strafwürdige Eskalationen sucht“, sagte deren innenpolitischer Sprecher Gottfried Curio. Warnhinweise sollten frühzeitig ausgewertet werden.
Bei langfristigen Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus geht es in der Unionsfraktion offenbar auch um eine Begrenzung der Zuwanderung, wenn man die Worte des innenpolitischen Sprechers Mathias Middelberg (CDU) genauer analysiert: Die Zuwanderung müsse „ein Maß bewahren, bei dem Integration noch leistbar ist“.
Integrationsarbeit müsse zielgenau sein: Die Schulen müssten sich damit auseinandersetzen, dass viele Migranten aus dem arabischen Raum von klein auf antiisraelisch und antisemitisch geprägt seien.
In der AfD-Fraktion wird es drastischer ausgedrückt: Dort fordert man ein „grundsätzliches politisches Umsteuern“, das auch einen „weiteren Import ausländischer politischer oder ethnischer Konflikte ausschließt“.
Nach parteiübergreifender Ansicht muss zudem die Integrationsarbeit verbessert werden. „Sowohl der deutsche Staat als auch deutsche Muslime sind aufgefordert, das Problem des Antisemitismus in muslimischen Communitys klar zu benennen und zu bekämpfen“, sagte FDP-Parlamentarier Kuhle und betonte, dass der islamische Religionsunterricht „endlich möglichst frei von ausländischem Einfluss“ organisiert werden müsse.
Er beklagte auch, dass die türkische Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan „über antisemitische Klischees Einfluss auf die Stimmung innerhalb der türkeistämmigen Community in Deutschland“ nehme.
Wann sich die Lage wieder beruhigt, ist unklar: Ein Ende der Demos ist bisher nicht Sicht. Am Sonntagabend war eine Pro-Palästinenser-Kundgebung vor dem Hauptbahnhof in Duisburg angemeldet.