Die Scheich-Said-Bewegung war ein von Kurden angeführtes Streben nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung

 

 

Von:  Taner Akçam:

 

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Vor genau einem Jahrhundert, am 29. Juni 1925, wurde Scheich Said in Diyarbakır hingerichtet. Er wird von vielen geliebt und von ebenso vielen gehasst. Aber ich kann nicht behaupten, dass er wirklich bekannt ist. Tatsächlich würde ich sogar sagen, dass wir fast nichts über ihn und den von ihm angeführten Aufstand wissen.

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                                                                                   Der Scheich-Said-Aufstand war ein Kampf um Gleichberechtigung | Ein Beitrag von Taner Akçam           

Zwei Gründe für unser Unwissen

Es gibt zwei wichtige Gründe für unser Unwissen über Scheich Said. Erstens, dass die Archivinformationen zu diesem Thema, obwohl inzwischen ein ganzes Jahrhundert vergangen ist (ja, leicht gesagt, in Zahlen: 100 Jahre), den Forschern immer noch vorenthalten werden. Ich möchte dies als eine „Schande“ bezeichnen. Wenn ein Staat seine eigenen Bürger daran hindert, über ein Ereignis zu sprechen, das vor 100 Jahren stattgefunden hat, indem er die entsprechenden Informationen zurückhält, dann ist das wirklich eine Schande. Das wirft natürlich eine Frage auf: Warum? Warum werden diese Informationen, egal welche Regierung in der Geschichte der Republik an der Macht war, vor den Bürgern geheim gehalten?

Ich behaupte, dass man sich vor etwas fürchtet. Wovor man sich fürchtet, ist die Wahrheit. Ob CHP, AKP oder andere – der Name der Partei spielt keine Rolle. Die türkische politische Elite fürchtet sich vor der Wahrheit. Andernfalls würden sie die Dokumente von vor 100 Jahren offenlegen und eine gesunde Debatte darüber ermöglichen.

Meine Behauptung ist einfach: Wenn wir die Dokumente zum Scheich-Said-Aufstand kennen und frei darüber sprechen könnten, hätten wir heute viele unserer Demokratieprobleme bereits gelöst. Es ist eine offene und bekannte Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit historischen Wahrheiten eine Voraussetzung für die Schaffung einer demokratischen Zukunft ist.

Aber es gibt noch einen zweiten wichtigen Grund für unser Unwissen über Scheich Said. Und das sind die auswendig gelernten Narrative aus den Gründungsjahren der Republik. Doch mit den uns bekannten Narrativen ist es unmöglich, den Scheich-Said-Vorfall zu verstehen. Denn die Fragen, die man stellen müsste, um das Ereignis zu verstehen, werden durch diese erzählten Narrative eingeschränkt. Und es wird unmöglich, die Wahrheiten zu erkennen, die außerhalb dieser Narrative existieren.

Die Scheich-Said-Bewegung wurde um drei Fragen herum diskutiert

Bislang wurde die Scheich-Said-Bewegung um drei Hauptfragen herum diskutiert:

a) Handelte es sich um einen kurdischen Nationalkampf oder um einen religiös-fundamentalistischen Aufstand? Die kurdische Mehrheit vertritt die Ansicht, der Aufstand sei ein Schritt zur Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates gewesen. Ihr wichtigster Beweis ist, dass die nach dem Aufstand verhängten Todesurteile wegen des „Versuchs der Gründung eines separaten Staates“ ausgesprochen wurden. Gläubige Muslime oder Anhänger der offiziellen türkischen These sehen in Scheich Said hingegen einen religiösen Eiferer, der einen „Scharia-Staat errichten“ und „das Kalifat wiederherstellen“ wollte. Abgesehen von einigen entsprechenden Äußerungen Scheich Saids selbst haben auch türkische Staatsvertreter intensive Propaganda betrieben, um die Bewegung in diesem Licht darzustellen.

c) War der Aufstand nicht eine Revolte der feudalen Reaktion gegen die kemalistische Moderne? Hier lautet die Hauptthese, dass die Anführer des Aufstands feudale Großgrundbesitzer waren. Die kemalistische Revolution hingegen wollte das Feudalsystem beenden und die Bauern befreien. Dies war die Hauptthese der damaligen Linken. Tatsächlich betrachteten die Kommunistische Partei der Türkei und die Kommunistische Internationale die Scheich-Said-Bewegung als reaktionären Aufstand und unterstützten das kemalistische Regime.

b) Gab es eine britische Beteiligung am Aufstand? In den 1920er Jahren war die Mosul-Frage ungelöst. Die Türkei erhob Anspruch auf Mosul. Daher wurde behauptet, der Aufstand sei von den Briten angestiftet worden. Dabei hatten türkische Führer der damaligen Zeit (wie İsmet İnönü) offen erklärt, dass es keine britische Beteiligung am Aufstand gab. Zudem liegen uns heute Dokumente vor, die belegen, dass die Briten den Aufstand nicht nur nicht unterstützten, sondern indirekt sogar auf der Seite der türkischen Regierung standen. Es ist einigermaßen seltsam, dass die Behauptung der „britischen Beteiligung“ trotz dieser Informationen immer noch im Umlauf ist.

Der Aufstand und die Christen (Assyrer/Aramäer-Armenier), Aleviten und Tscherkessen

Natürlich sind die oben genannten Fragen wichtig und können diskutiert werden. Aber wenn man den Scheich-Said-Vorfall wirklich kennen und verstehen will, muss man andere Fragen stellen:

  1. Warum nahmen die Assyrer/Aramäer, deren Zahl auf etwa 1000 geschätzt wird, an diesem Aufstand teil? Warum wurden Hunderte von ihnen festgenommen und inhaftiert? Warum flohen fast tausend Assyrer/Aramäer oder wurden ins Exil geschickt? Warum wurden unter den Gefassten etwa 10 Assyrer/Aramäer hingerichtet?

  2. Warum beteiligten sich auch überlebende Armenier an dem Aufstand? Mindestens drei Armenier wurden hingerichtet, und einer wurde exekutiert, obwohl er lebend gefasst wurde.

An dem Aufstand beteiligten sich nicht nur Christen. Auch Aleviten nahmen in großem Umfang teil.

  1. Der größte Prozess gegen die Teilnehmer des Scheich-Said-Aufstands wurde gegen Aleviten geführt. Der Prozess gegen den Koçuşağı-Stamm hatte rund 500 Angeklagte und erinnert in gewisser Weise an die Massenprozesse nach dem Militärputsch von 1980. In dem Prozess wurde für fast 200 Aleviten die Todesstrafe gefordert; etwa 150 Todesurteile wurden verhängt und 8 Personen hingerichtet. Unter den hingerichteten Aleviten war auch ein über 100-jähriger Alevit aus Van. Die bis heute verbreitete Behauptung, Aleviten hätten sich nicht am Aufstand beteiligt, ist also nichts als ein Mythos.

  2. Einer der größten Unterstützer des Aufstands war Seyit Rıza. Während des Aufstands führte er ein Telefongespräch mit İsmet Pascha, das in gegenseitigen Beschimpfungen mündete. Man kann mit Sicherheit sagen, dass ihre Beteiligung am Scheich-Said-Aufstand von 1925 eine wichtige Rolle bei der Vernichtung der Menschen aus Dersim in den Jahren 1937-38 spielte.

  3. Die vielleicht schockierendste Information ist, dass auch Tscherkess Ethem 1925 nach Syrien ging, um den Aufstand zu unterstützen. Wie viele von uns wissen, dass die Tscherkessen sich der Scheich-Said-Bewegung anschließen wollten?

Ich könnte die Liste fortsetzen. Aber meine Beobachtung ist sehr einfach: Es ist offensichtlich nicht möglich, den Scheich-Said-Aufstand allein mit den drei oben zusammengefassten Fragenkomplexen zu verstehen. Es ist überdeutlich, dass weder kurdischer Nationalismus noch die Sehnsucht nach der Scharia die Assyrer/Aramäer, Armenier, Aleviten und Tscherkessen zur Teilnahme an dieser Bewegung bewogen haben kann. Was also war dieser andere Grund?

Der Aufstand war ein Streben nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung

Die Antwort auf diese Frage gibt uns Malak Barşom, ein 1925 wegen des Aufstands hingerichteter assyrisch-aramäischer Anwalt aus Mardin. Zu seinem Cousin, der sich weigerte, am Aufstand teilzunehmen, sagte er: „Von den Türken können wir keine Gleichberechtigung erlangen, unsere Gleichberechtigung sichern wir gemeinsam mit den Kurden.“ Es war also das Streben nach Gleichheit, die Suche nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung, die Christen, Aleviten und Tscherkessen in die Scheich-Said-Bewegung trieb.

Die Scheich-Said-Bewegung ist eine von Kurden angeführte Suche nach staatsbürgerlicher Gleichberechtigung. Und aus diesem Grund wurde in dem Aufruf vor Beginn des Aufstands an das erinnert, was den Armeniern angetan worden war; Kurden und andere Gemeinschaften wurden mit den Worten zum Aufstand aufgerufen: „Was sie den Armeniern angetan haben, werden sie auch uns antun.“ Denn sie wussten, dass auch die armenischen Bürger des Osmanischen Reiches staatsbürgerliche Gleichberechtigung gefordert hatten.

Die Informationen, die ich hier präsentiere, sind wie kleine Wassersickertellen, die durch dicke Mauern dringen. Wenn die Archive geöffnet würden und wir Zugang zu den Dokumenten des Ereignisses hätten, würden wir noch viel mehr erfahren.

In diesen Tagen, in denen wir über die „kurdische Öffnung“ sprechen, hat eine Debatte über Scheich Said eine immense Bedeutung, nicht wahr? Das zentrale Thema der Öffnung ist in Wirklichkeit die Frage der „staatsbürgerlichen Gleichberechtigung“. Und hätten wir nicht viel größere Fortschritte gemacht, wenn wir gewusst hätten, dass auch Scheich Said vor vielen Jahren für dieses Ziel gekämpft hat?

Eine letzte Anmerkung: Diese Informationen zum Scheich-Said-Aufstand habe ich in meinem Buch Yüzyıllık Apartheid (Ein Jahrhundert der Apartheid, Aras Verlag, 2023) ausführlich erörtert. Interessierte Leser können sich dort über die Quellen der hier genannten Informationen informieren.