Offener Brief zur Berücksichtigung des Themenfeldes „Integrationspolitik“ in der Koalitionsvereinbarung

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Tayfun Keltek
Vorsitzender

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, sehr geehrter Herr Schulz, sehr geehrter Herr Seehofer,

die Unionsparteien und die SPD haben in ihrem Sondierungspapier vom 12. Januar 2018 den inhaltlichen Rahmen für die Koalitionsgespräche zur Bildung einer Bundesregierung abgesteckt. Eingangs heißt es u.a., dass die zukünftigen Koalitionspartner „den sozialen Zusammenhalt in unserem Land stärken und die entstandene Spaltung überwinden“ und „unsere Demokratie beleben“ wollen. Der Landesintegrationsrat stellt jedoch fest, dass das Kapitel „Migration und Integration“ ohne Berücksichtigung dieser Ziele verfasst wurde. Vielmehr zeichnet sich dieser Abschnitt durch eine erschreckende Abwesenheit von Sensibilität und Fachkenntnis für das Themengebiet aus. Von integrationspolitischen Initiativen angesichts der Herausforderungen und Bedürfnisse unserer Einwanderungsgesellschaft fehlt im Sondierungspapier jede Spur. Stattdessen bestimmt ein auf Ausgrenzung und Ausreise ausgerichteter Ansatz den Ton. Mit der Fokussierung auf eine restriktive Flüchtlingspolitik wird vor allem den Forderungen potentiell rechtsorientierter Wählerinnen und Wählern entsprochen und die Interessen der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund ausgeblendet. Im Sondierungspapier bleiben also die Anliegen von mehr als ein Fünftel aller Einwohner/innen Deutschlands – Menschen, die hier zum Teil seit Jahrzehnten leben – größtenteils unberücksichtigt.

Die Anmerkungen des Landesintegrationsrates NRW im Einzelnen:

  1. Die Bundesrepublik Deutschland ist spätestens seit dem ersten Anwerbeabkommen 1955 ein Einwanderungsland. Diese Tatsache wurde lange genug negiert und darf nicht länger infrage gestellt werden. Als ein konstitutives Element unserer Gesellschafft muss Einwanderung positiv betrachtet und Ideen zur Entfaltung ihrer Ressourcen entwickelt werden. Die neue Bundesregierung muss sich eindeutig zur offenen, vielfältigen Gesellschaft bekennen, die Leistungen aus mittlerweile drei Einwanderergenerationen würdigen und ein klares Zeichen gegen nationalistische Tendenzen setzten. Der Zusammenhalt in unserem Land kann nur gestärkt werden, wenn seine Bevölkerung in seiner ganzen Vielfalt anerkannt und wertgeschätzt wird.
  2. Integration ist keine Notlösung für Flüchtlinge, die nicht abgeschoben werden können. Sie stellt nicht nur Flüchtlinge vor Herausforderungen und umfasst nicht nur „Angebote nach dem Grundsatz des Förderns und Forderns für Spracherwerb und Beschäftigung“, wie die Sondierer schreiben. Integration wird nicht gelingen, wenn Einwanderer als unerwünschte Eindringlinge behandelt werden, die sich anzupassen oder auszureisen haben. Vielmehr erfordert gelingende Integration sowohl die Bereitschaft zur Veränderung der angestammten Bevölkerung als auch der Einwander/innen. Vor allem aber sollte die neue Bundesregierung sich zum Ziel setzen, niedrigschwellige Teilhabemöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen anzubieten. Das gilt neben dem Zugang zu Kinderbetreuung, Schule, Wohnungs- und Arbeitsmarkt insbesondere für die politische Partizipation. Wer sich an Entscheidungsprozessen beteiligen und sein Umfeld aktiv mitgestalten kann, sieht sich als erwünschtes und respektiertes Mitglied der Gesellschaft. Sie/er fühlt sich zuhause und entwickelt eine selbstverständliche Loyalität zum Land, in dem sie/er seinen Lebensmittelpunkt hat. Integration beginnt mit Teilhabe.
  3. Gleichberechtigte Teilhabe braucht eine entsprechende Gesetzgebung. Die ungleiche Verteilung von politischen Rechten der Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands auf Basis der jeweiligen Staatsangehörigkeit ist ein Armutszeugnis für eine Demokratie. Einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung werden politische Rechte vorenthalten. Diese Entwicklung stellt zunehmend das Funktionieren unserer repräsentativen Demokratie infrage. Die Einführung eines umfassenden Wahlrechts, zumindest aber in einem ersten Schritt des kommunalen Wahlrechts, ist mehr als überfällig und muss Bestandteil der Koalitionsvereinbarung sein. Bereits der Koalitionsvertrag von Union und SPD vom 11.11.2005 enthielt einen Prüfauftrag zur Ermöglichung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige. Der Landesintegrationsrat NRW würde es sehr begrüßen, wenn die große Koalition nun die Chance nutzt, die Rechte von Drittstaatsangehörigen an die von Unionsbürger/innen anzupassen.
  4. Die Integrationspolitik braucht einen Perspektivwechsel. Anerkennung und Wertschätzung sollten die Forderungshaltung an Menschen mit Migrationshintergrund ablösen. Es gibt ausreichend Erkenntnisse darüber, dass es schädlich für das Zusammenleben ist, wenn sich Menschen tagtäglich mit gesellschaftlicher und politischer Ablehnung hinsichtlich ihrer Herkunft, kulturellen Hintergründe, Familiensprachen oder Religionen auseinandersetzen müssen. Ein wichtiges Zeichen, mit dem die Bundesregierung diesen Perspektivwechsel einleiten könnte, ist die generelle Zulassung von Mehrstaatigkeit bei einem gleichzeitigen Stopp immer wiederkehrender Debatten über Loyalitäts- und Leitkulturfragen.
  5. Rassismus und Rechtsextremismus müssen ausgegrenzt werden. Rechtspopulistische Positionen dürfen nicht aus Angst vor einem Verlust von Wählerstimmen von demokratischen Parteien und Politiker/innen übernommen. Gruppen vom rechten Rand konnten in den vergangenen Jahren zunehmend an Einfluss gewinnen und die politische Agenda im Bereich Flüchtlinge und Integration mitbestimmen. Die Situation der Betroffenen, die sich von Politik und Gesellschaft alleingelassen fühlen, muss für die zukünftige Regierung eine besondere Rolle zu spielen. Auch hier ist also ein radikales Umdenken unbedingt notwendig. Eine der prioritären Aufgaben der neuen Bundesregierung sollte das Auflegen eines umfassenden Programms zur Bekämpfung von Diskriminierung sowie rassistischen, antisemitischen und antiislamischen Gedankenguts unter besonderer Berücksichtigung von institutionellem Rassismus sein.
  6. Wir begrüßen das Vorhaben, ein Einwanderungsgesetz zu schaffen und die Situation langjährig Geduldeter zu verbessern. Gleichzeitig drängen wir darauf, nicht nur Hochqualifizierten Einwanderungsoptionen zu bieten, sondern Perspektiven auch für diejenigen zu schaffen, die nicht in erster Linie den Fachkräftemangel bei uns bekämpfen. Ohnehin verfügt Deutschland aufgrund seiner ungenutzten Ressourcen über hohes Potential, um den Fachkräftebedarf in der Wirtschaft abzudecken. Damit dieses wirksam eingebracht werden kann, müssen Benachteiligungen im Bildungssystem abgebaut werden, unter denen insbesondere Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien leiden. Die Defizitorientierung in Schule und Ausbildung sollte einer Potentialorientierung Platz machen, die die vorhandenen Kompetenzen in den Blick nimmt. Bislang oft brach liegende Fähigkeiten, die Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer Bikulturalität und Mehrsprachigkeit mitbringen, sollten im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten genutzt und systematisch gefördert werden.
  7. Jeder Flüchtling braucht ein faires Verfahren und Integrationsangebote von Anfang an. Die Unterscheidung in Flüchtlinge mit guter und schlechter Bleibeperspektive lehnen wir strikt ab. Sie fördert die Ungleichheit in unserem Land und widerspricht dem Individualrecht auf Asyl. Aus demselben Grund lehnen wir auch die Erweiterung der Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten ab. Es ist absurd, von der Anerkennungsquote Rückschlüsse auf die individuelle Sicherheit einer Person in einem Land zu ziehen. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass die Erklärung von Staaten für „sicher“ als Instrument zur Reduzierung von unliebsamen Flüchtlingen ist, denen man nicht bereit ist, Integrationsangebote zu machen und eine Bleibeperspektive zu verschaffen.

Der Landesintegrationsrat warnt eindringlich davor, eine von Härte dominierte Flüchtlingspolitik fortzuführen. Nicht die Zahl der Flüchtlinge oder der Unwillen der deutschen Bevölkerung hat unser Land an den Rand der „Integrationsfähigkeit“ – wie es im Sondierungspapier heißt – gebracht. Wenn überhaupt, waren es die asylrechtlichen Verschärfungen der letzten Jahre, die das ehrenamtliche Engagement tausender Freiwilliger und die Anstrengungen der Kommunen regelmäßig konterkariert haben. Leider schlägt das Vorhaben der flächendeckenden Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen in genau dieselbe Kerbe und treibt damit erneut Ausgrenzung und Konflikte in den Unterkünften und mit der Umgebung voran. Auch die im Sondierungspapier beschriebenen Überbleibsel eines Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte sind bestenfalls Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, haben aber mit den stets hochgehaltenen Werten Europas wenig zu tun und erschwert zudem die Integration. Wir sprechen uns daher nachdrücklich für die Rückkehr zur ursprünglichen gesetzlichen Regelung für subsidiär Schutzberechtigte – geschaffen durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.07.2015 – aus.

Für die neue Bundesregierung sollte klar sein: Flüchtlinge sind keine Bedrohung, sondern Menschen, die sich vor Krieg, Verfolgung oder Hunger in Sicherheit bringen wollen. Es sollte dabei nicht vergessen werden, dass Flüchtlinge Kompetenzen mitbringen und dass sie massiv zur guten konjunkturellen Lage insbesondere der Baubranche sowie zu einer Einstellungswelle von Lehrer/innen, Erzieher/innen, Sozialpädagog/innen, Psycholog/innen etc. beigetragen haben.

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, sehr geehrter Herr Schulz, sehr geehrter Herr Seehofer,
es gibt vermehrt Klagen darüber, dass sich Türkischstämmige Präsident Erdoğan zuwenden und kein Interesse für die hiesige Politik zeigen. Aus unserer Sicht ist solches Verhalten ebenfalls nicht wünschenswert, aber leider erklärbar. Mit der neuen Amtsperiode der Bundesregierung ergibt sich nun die Chance, diese Menschen und alle anderen Menschen mit Migrationshintergrund, für unser Land (zurück)zugewinnen und ihnen deutlich zu machen, dass sie als gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft willkommen sind. Dazu müssen sie ihre Interessen von der Politik vertreten sehen.