Politiker Demirtas in Türkei zu 42 Jahren Haft verurteilt
Die Richter sprachen den früheren Vorsitzenden der prokurdischen HDP-Partei und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtas wegen Terrorpropaganda und wegen Beihilfe zur Störung der Einheit und Integrität des Staates schuldig. Das meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu. Die Tatvorwürfe beziehen sich auf die gewaltsamen Proteste im Jahr 2014 gegen die Belagerung der nordsyrischen Stadt Kobane durch die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS). Anwälte aus Demirtas' Verteidigerteam kündigten an, Berufung gegen das Urteil einlegen zu wollen.
Zugleich wurde die frühere Ko-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag, von dem Gericht in Sincan am Rande der türkischen Hauptstadt Ankara zu 30 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, wie der private Sender NTV und die Menschenrechtsgruppe MLSA berichteten. Insgesamt waren in dem Prozess 108 Menschen angeklagt worden. Zwölf Angeklagte wurden laut Anadolu freigesprochen, 72 seien flüchtig.
Türkei ignoriert EGMR-Anordnungen
Demirtas war wegen 47 Straftatbeständen angeklagt, darunter Verletzung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität sowie Anstiftung zu einem Verbrechen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Verfahren in der Vergangenheit kritisiert und mehrfach die Freilassung Demirtas' angeordnet. Die Türkei ignoriert das Urteil, obwohl sie als Mitglied des Europarates eigentlich daran gebunden ist.
Erdogan beschuldigt die HDP, der politische Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Die HDP weist dies zurück. Die PKK wird in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation eingestuft. Gegen die HDP läuft ein Verbotsverfahren. Abgeordnete der Partei schlossen sich zu einer neuen Partei namens DEM zusammen. Im Parlament ist sie die drittgrößte Kraft.
Der Co-Vorsitzende der DEM, Tuncer Bakirhan, prangerte das Urteil als "schwarzen Fleck in der Geschichte der türkischen Justiz" an. "Wir alle waren heute Zeugen eines juristischen Massakers", erklärte Bakirhan. "Es wurde versucht, Kurden und Revolutionäre von der politischen Bühne zu tilgen."
DEM-Abgeordnete entrollten während einer Sitzung des Parlaments Porträts von Demirtas und Yüksekdag, um gegen das Urteil zu protestieren. Unterdessen verhängte der Gouverneur von Diyarbakir ein viertägiges Demonstrationsverbot in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinz im Südosten des Landes.
Weitere Verfahren gegen Demirtas
Der charismatische Politiker Demirtas war lange ein ernsthafter Rivale Erdogans, zwei Mal trat er gegen ihn bei Präsidentschaftswahlen an. Dann wurde ihm von der Regierung in Ankara "Terrorismus" vorgeworfen, im November 2016 wurde er inhaftiert.
Der 51-Jährige sitzt in einem Gefängnis in der westtürkischen Stadt Edirne ein und muss sich in mehreren Verfahren verantworten, die von Regierungen westlicher Länder als Teil von Erdogans Vorgehen gegen politisch Andersdenkende eingestuft werden.
Erdogans AK-Partei musste am 31. März bei Kommunalwahlen die schwerste Niederlage seit mehr als 20 Jahren einstecken. Experten zufolge erschwert dies seine Pläne für ein Referendum über eine Verfassungsänderung. Diese könnte dem 70-Jährigen die Möglichkeit geben, auch nach dem Ablauf seiner gegenwärtigen Amtszeit 2028 an der Macht zu bleiben.
kle/jj (afp, rtr, dpa)