Vor den Europawahlen: Generation rechts: Warum junge Europäer immer häufiger Rechtspopulisten ihre Stimme geben – und welche Folgen dieser Trend hat

Handelsblat

Geschichte von Waschinski, Gregor Louven, Sandra Scheer, Olga Steuer, Helmut Specht, Frank Wermke, Christian Baumann, Meret Neuerer, Dietmar

 

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                                                              News Bilder des Tages Marine Le Pen, d put e du parti et candidate la pr sidentielle, lors d une vi data-portal-copyright= © Bereitgestellt von Handelsblatt

 

AfD, Le Pen, Meloni: Für eine wachsende Zahl junger Menschen sind das keine Feindbilder mehr, sondern wählbare Alternativen. Der rechte Rand schafft es immer häufiger, cool zu wirken – mithilfe ausgeklügelter Strategien.

- In einer ganzen Reihe von EU-Staaten legen rechtspopulistische Parteien in den jüngeren Altersklassen zu.

- Bandenkriminalität in Schweden, ökonomische Unsicherheit in Spanien: Die Gründe für die steigende Beliebtheit rechter Parteien bei jungen Europäern sind vielfältig. Abstiegsangst spielt fast immer eine Rolle.

- „Für den Erfolg von rechten Bewegungen ist es nicht entscheidend, ob eine Ungerechtigkeit objektiv besteht oder nur subjektiv empfunden wird“, sagt die Anthropologin Julia Ebner. Sie sieht erstaunliche Parallelen zwischen Rechtsextremen und Islamisten.

- Ein Team von Handelsblatt-Reportern hat sich auf Spurensuche begeben: Handelt es sich nur um eine Momentaufnahme auf einem zutiefst verunsicherten Kontinent – oder einen Generationenbruch, der die politische Zukunft von Europa prägen könnte?

„Jordaaaaaaan, ein Foto!“ Eine junge Französin drängelt sich durch den Pulk um Jordan Bardella. Den Vornamen zieht sie in die Länge wie ein aufgeregter Teenager, der einem Popstar begegnet. Doch Bardella macht keine Musik, sondern Politik. Er trägt einen dunklen Anzug, darunter einen Rollkragenpullover. Und er repräsentiert eine Partei, die bei Frankreichs Jugend bis vor Kurzem so sexy war wie die CD-Sammlung der Eltern.

Bardella ist für den Rassemblement National (RN) unterwegs, der früher Front National hieß. Ein Wahlkampftermin in der Kleinstadt Montereau, anderthalb Autostunden südöstlich von Paris gelegen. Der 28-Jährige gilt als Erbe Marine Le Pens, die der Rechtsaußenpartei ein gemäßigteres und jüngeres Image verpasst hat. Bei der Europawahl Anfang Juni ist Bardella Spitzenkandidat. Dort dürfte der RN klar die stärkste Kraft werden – auch wegen zahlreicher Stimmen von Jungwählern.

Das Phänomen lässt sich nicht nur in Frankreich beobachten. In einer ganzen Reihe von EU-Staaten legen rechtspopulistische Parteien in den jüngeren Altersklassen zu. Bei der Parlamentswahl in den Niederlanden Ende November kam die Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders bei den unter 35-Jährigen auf 17 Prozent, davor waren es nur sieben Prozent. Als Portugal im März über ein neues Parlament abstimmte, gewann die rechtspopulistische Partei Chega (auf Deutsch: „Es reicht!“) bei Jungwählern stark hinzu.

Auch in Deutschland holt das Rechtsaußenlager auf, und das nicht nur im Osten der Republik. Im vergangenen Jahr lag die AfD bei den Landtagswahlen in Bayern unter Jungwählern auf Platz drei, in Hessen sogar auf Platz zwei. Den Trend belegt die Untersuchung „Jugend in Deutschland 2024“: Bei den unter 30-Jährigen, die eine Parteipräferenz haben und wählen gehen wollen, würden 22 Prozent für die AfD votieren. Keine andere Partei kommt auf einen so hohen Wert. Methodisch entspricht die Studie nicht den klassischen Sonntagsfragen, was was ihr einige Kritik einbrachte, doch bei anderen Umfragen lässt sich eine ähnliche Tendenz beobachten.

Und bisweilen schlägt rechtsradikale Gesinnung in Gewalt um: Zumindest einer der vier jungen Täter, die vor einer Woche den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden zusammengeschlagen haben, zählt laut Landeskriminalamt Sachsen zum „rechten Spektrum“.

Neben einer eher linken „Generation Greta“, die bei Fridays for Future für den Schutz des Klimas demonstriert, existiert offenbar auch eine andere Strömung, die an Kraft zulegt. Wächst in Europa eine „Generation rechts“ heran?

Fest steht: Eine zunehmende Zahl junger Europäer ist empfänglich für die Botschaften vom rechten Rand zu Migration und Sicherheit. Bei der Europawahl werden sie für nationalistische Politiker stimmen, auch wenn sie ganz selbstverständlich in einer EU ohne Grenzkontrollen oder nervige Roaming-Gebühren aufgewachsen sind. Und sie scheinen weniger Berührungsängste mit Parteien zu haben, die für die Generation ihrer Eltern noch oft als unwählbar galten.

„Der Rechtsruck der jungen Generation dürfte den Prozess der europäischen Integration weiter schwächen und vieles Erreichte revidieren“, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dem Handelsblatt. „Vielen der jungen Generation ist offensichtlich nicht bewusst, dass eine Schwächung Europas letztlich ihre eigenen Zukunftschancen verschlechtert und im Systemwettbewerb mit China und den USA Deutschland und Europa viel Wohlstand kosten wird.“

Ein Team von Handelsblatt-Reportern hat sich einen Monat vor der Europawahl auf Spurensuche begeben: Wo liegen die Gründe für die Anziehungskraft von rechtspopulistischen Parteien bei jungen Menschen in der EU? Und handelt es sich nur um eine Momentaufnahme auf einem zutiefst verunsicherten Kontinent – oder um einen Generationenbruch, der die politische Zukunft Europas prägen könnte?

1. Das coole Gesicht der neuen Rechten

„Jordaaaaaaan!“ Die junge Französin hat es zu Bardella geschafft und macht ein Selfie. Der Politiker kommt auf seinem Weg entlang der Weinstände und Kirmesbuden nur langsam voran. Viele Menschen auf dem Jahrmarkt von Montereau, den Bardella Mitte April besucht, suchen seine Nähe. Ein beträchtlicher Teil von ihnen gehört zur Generation U30.

Als die Partei noch Front National hieß und vom Holocaust-Verharmloser Jean-Marie Le Pen geführt wurde, galt sie als rassistische Altherrenrunde und war für die meisten Franzosen unwählbar. Marine Le Pen hat nicht nur den Namen geändert, sondern ihren Vater auch aus der Partei geworfen. „Parteikader, die für die rechtsextreme Vergangenheit standen, wurden herausgedrängt und durch junge Gesichter wie Bardella ersetzt“, sagt Ronja Kempin, Frankreichexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Auch Nicolas hat sich in Montereau mit Bardella fotografiert. Der 18-Jährige studiert im ersten Jahr an der Sorbonne, einst Hochburg der französischen 68er-Bewegung. Nicolas’ Hauptfach ist Geschichte, seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Bei den Europawahlen will der Erstwähler dem RN seine Stimme geben. Was sagt er, wenn man die Partei als rechtsextrem bezeichnet? Nicolas schüttelt den Kopf: „Jordan Bardella hat es geschafft, die Franzosen zu versammeln, egal was ihr sozialer oder religiöser Hintergrund ist.“ Auch Einwanderer würden ihn unterstützen. Bardella komme aus einfachen Verhältnissen und habe mit den italienischen Wurzeln seiner Familie selbst einen Migrationshintergrund.

Den Austritt aus der EU will Nicolas auf keinen Fall. Allerdings wünscht er sich „ein weniger föderalistisches Europa“, den „Respekt für das Volk“ und die „Verteidigung der europäischen Werte“. Dann sagt er: „Die Türkei hat eben nicht unsere Werte.“

1. Das coole Gesicht der neuen Rechten

„Jordaaaaaaan!“ Die junge Französin hat es zu Bardella geschafft und macht ein Selfie. Der Politiker kommt auf seinem Weg entlang der Weinstände und Kirmesbuden nur langsam voran. Viele Menschen auf dem Jahrmarkt von Montereau, den Bardella Mitte April besucht, suchen seine Nähe. Ein beträchtlicher Teil von ihnen gehört zur Generation U30.

Als die Partei noch Front National hieß und vom Holocaust-Verharmloser Jean-Marie Le Pen geführt wurde, galt sie als rassistische Altherrenrunde und war für die meisten Franzosen unwählbar. Marine Le Pen hat nicht nur den Namen geändert, sondern ihren Vater auch aus der Partei geworfen. „Parteikader, die für die rechtsextreme Vergangenheit standen, wurden herausgedrängt und durch junge Gesichter wie Bardella ersetzt“, sagt Ronja Kempin, Frankreichexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Auch Nicolas hat sich in Montereau mit Bardella fotografiert. Der 18-Jährige studiert im ersten Jahr an der Sorbonne, einst Hochburg der französischen 68er-Bewegung. Nicolas’ Hauptfach ist Geschichte, seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Bei den Europawahlen will der Erstwähler dem RN seine Stimme geben. Was sagt er, wenn man die Partei als rechtsextrem bezeichnet? Nicolas schüttelt den Kopf: „Jordan Bardella hat es geschafft, die Franzosen zu versammeln, egal was ihr sozialer oder religiöser Hintergrund ist.“ Auch Einwanderer würden ihn unterstützen. Bardella komme aus einfachen Verhältnissen und habe mit den italienischen Wurzeln seiner Familie selbst einen Migrationshintergrund.

Den Austritt aus der EU will Nicolas auf keinen Fall. Allerdings wünscht er sich „ein weniger föderalistisches Europa“, den „Respekt für das Volk“ und die „Verteidigung der europäischen Werte“. Dann sagt er: „Die Türkei hat eben nicht unsere Werte.“

Marjorie Daviaud hat schon bei der Präsidentschaftswahl 2022 für Le Pen gestimmt. Die 24-Jährige sagt, sie sei Schauspielerin. Der Alltag sei in den letzten Jahren viel teurer geworden. Und ihr gehe es um die Unsicherheit, die sie als Frau selbst auf den Straßen spüre: „Das hat auch mit der Einwanderungspolitik zu tun.“

In einer Europawahl-Umfrage für die Zeitung „Le Figaro“ liegt das liberale Bündnis von Präsident Emmanuel Macron bei den unter 35-Jährigen bei nur noch sieben Prozent. Macron habe aus Sicht vieler junger Leute nicht die Versprechen eingelöst, mit denen er 2017 angetreten sei, sagt Frankreichexpertin Kempin, „das treibt die jungen Wähler an die politischen Ränder – und sie sind zunehmend bereit, dem RN als Alternative eine Chance zu geben“.

2. Zukunftssorgen als Triebfeder

Ein Stimmenzuwachs am rechten Rand ist oft ein Ausdruck gesellschaftlicher Unzufriedenheit. Das gelte zwar keineswegs nur für Jungwähler, sagt Politikwissenschaftler Benjamin Biard, der sich am Sozialforschungszentrum Crisp in Brüssel mit Demokratiefragen befasst. Aber: Unter jungen Europäern seien Zukunftssorgen derzeit besonders verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie „Jugend in Deutschland 2024“, die unter Beteiligung des Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann erarbeitet wurde: Der Nachwuchs in der Bundesrepublik wird im Vergleich zu früheren Befragungen immer unzufriedener, besonders mit Blick auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage.

Ökonom Fratzscher hält die Sorgen für berechtigt. „Nie in den letzten 80 Jahren wurde einer jungen Generation eine Welt mit so vielen großen Problemen und Krisen vererbt wie der jungen Generation heute“, sagt der DIW-Chef. Angesichts einer zunehmenden Klimakrise, sozialer Polarisierung, geopolitischer Konflikte und Sorgen um Technologie und Arbeitsplätze seien daher „Frustration und die Zukunftsängste“ der Jüngeren berechtigt.

Es gibt eine gewissen Legitimität der Kritikpunkte“, sagt auch Biard. Die rechten Parteien würden die Ängste mit ihrer emotionalen Wortwahl aber auszunutzen und verstärken: „Sie heizen die Glut an.“

Das zeigt sich auch am Mittwochabend im Berliner Bezirk Pankow. An den Straßenlaternen der von Kleingärten gesäumten Bahnhofstraße dominiert das Blau der AfD-Plakate. Der Ortsverein Pankow hat Mary Khan-Hohloch und Alexander Sell zum Bürgerdialog eingeladen, zwei AfD-Listenkandidaten für die Europawahl. Auch die Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch kommt zum Zuhören vorbei. Und als „Ehrengast“ wird die 27-jährige AfD-Kreistagsabgeordnete Marie-Thérèse Kaiser begrüßt. Sie wurde wegen Volksverhetzung verurteilt, weil sie in einem Social-Media-Beitrag afghanische Ortskräfte der Bundeswehr in einen Zusammenhang mit Gruppenvergewaltigungen setzte. Seither wird sie in der Partei als eine Art Märtyrerin verehrt.

Das kleine Lokal, in dem man sich trifft, ist weiträumig von der Polizei abgeriegelt. Der Altersschnitt der Antifa-Demonstranten, die draußen johlen, ist deutlich niedriger als der der Zuhörer im Saal. Doch auch drinnen sitzen neben etlichen Grau- und Weißhaarigen auffallend viele junge Menschen. Einer von ihnen trägt ein Blümchen-T-Shirt und könnte locker als Grünen-Wähler durchgehen, sein Nachbar wird sich später in der Diskussion noch als Marc vorstellen. Beide sind gekommen, um sich über die AfD zu informieren, und werden von einer Frau, selbst Parteimitglied, freudig begrüßt.

EU-Parlamentskandidat Sell berichtet dann von den rund 40 Podiumsdiskussionen, die er an Berliner Schulen absolviert habe. Den meisten Gegenwind gebe es im Villenstadtteil Zehlendorf, wo die verzogenen Kinder lebten, denen man das viele Geld ansehen könne und wo man die Lehrer am Cordsakko erkenne. Und dann gebe es Schöneberg mit 85 Prozent Migrantenanteil, wo „arabische Jungmänner“ sich von den „Lehrer-Schluffis“ nicht indoktrinieren ließen. Da, erzählt Sell, habe er punkten können. Denn die AfD sei die einzige Partei, die den Leuten die Wahl lasse, ob sie lieber Achtzylinder oder Elektroautos fahren wollten

Kandidatin Khan-Hohloch, Jahrgang 1994 und mit iranischen Wurzeln, kommt gerade vom Europawahl-„Speeddating“ an Potsdamer Schulen. „Man merkt, dass gerade junge Leute unglaublich interessiert sind“, sagt sie – und meint damit das Interesse an ihrer Partei.

Irgendwann meldet sich Salvador, ein Teenager, dessen Eltern aus Südamerika stammen. Er will gar keine Frage stellen, aber mal klarstellen, dass man auch in Deutschland durchaus mehr Wert auf Nationalstolz legen könnte. Dann hebt Marc zu einem Plädoyer an, dass der Ukrainekrieg nur auf dem Verhandlungsweg gelöst werden könne und dass bei allen bisherigen Kriegen die USA die alleinigen Gewinner gewesen seien. „Das darf nicht noch einmal passieren!“, ruft er – und erntet stürmischen Beifall.

Irgendwann fasst sich auch Marcs Nachbar mit dem Blümchen-T-Shirt ein Herz – und meldet leise Zweifel an: Die AfD sage, dass der Euro Deutschland schade. Er aber habe gehört, dass Deutschland zu den größten Gewinnern der Gemeinschaftswährung zähle. Das sehe er anders, antwortet Sell. Der Euro befeuere die Inflation und nutze allein der Exportwirtschaft, die Bürger hätten wenig davon.

Dann ist die Veranstaltung zu Ende, es gibt noch Schmalzbrote und Bier. Als die beiden jungen Männer gehen wollen, nimmt der Sprecher des AfD-Bezirksvorstands sie zur Seite. Das mit dem Euro, das müsse man doch noch einmal vertiefen, sagt er. Und so reden sie weiter. Die Antifa draußen ist da längst verschwunden, die Polizeisperren sind abgebaut.

In Pankow zeigt sich einmal mehr: Die Zuwendung zu rechten Parteien hat nur zum Teil etwas damit zu tun, wie prekär die Lebenschancen für die junge Generation wirklich sind. Mindestens ebenso sehr geht es um Symbolisches: um nationale Identität, um traditionelle Männlichkeit, um vermeintliche grüne Verbotspolitik, um die angebliche Diktatur der Brüsseler Bürokraten.

3. Reizthemen Migration und innere Sicherheit

Oder wie in Schweden um ein Bedrohungsgefühl. Die Sozialdemokratie hat dem Land über 100 Jahre hinweg einen egalitären Sozialstaat mit einem engmaschigen Schutznetz verpasst. Allerdings merken auch die schwedischen Sozialdemokraten, dass etwas ins Rutschen geraten ist. „Die jungen Wähler heute gehören nicht mehr zur ‚Generation Greta‘, bei der das Klima und das Retten der Welt im Vordergrund steht“, heißt es in einer Analyse der Partei. Und sollte diese Entwicklung nicht gestoppt werden können, würden sich mehr junge Wähler „zu autoritären und individualistischen Lösungen hinwenden, und immer weniger werden die Sozialdemokraten wählen“.

Die Prognose ist bereits Realität geworden: Kamen Schwedens Sozialdemokraten 2018 bei den 18- bis 21-jährigen Wählern auf 29 Prozent der Stimmen, waren es 2022 nur noch 20 Prozent. Im gleichen Zeitraum steigerten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten ihren Stimmenanteil bei der jungen Altersgruppe von zwölf auf 22 Prozent.

Für den Politikwissenschaftler Tommy Möller von der Universität in Stockholm ist die seit Jahren eskalierende Bandenkriminalität in Schweden mit vielen Todesopfern ein Grund für den Rechtsrutsch. „Das ist definitiv ein Faktor“, sagt er. Jüngere Menschen seien häufiger als ältere Opfer der Gewaltwelle geworden, deren Täter oft einen Migrationshintergrund hätten.

In Schweden mit seinem ausgeprägten Sozialstaat ist es die Bandenkriminalität, die Rechtspopulisten junge Wähler zutreibt. In Spanien und Portugal sind es eher ökonomische Zukunftsängste. Der Politologe Luca Manucci leitet an der Universität Lissabon ein Projekt über die Normalisierung der Rechtsextremen in Portugal und Spanien. Er sagt: Die meisten jungen Portugiesen und Spanier seien keine Aktivisten, die die Welt bereist hätten. „Sie haben die Finanzkrise und die Pandemie erlebt und sorgen sich ganz grundsätzlich um die wirtschaftliche Zukunft, die Folgen

der Globalisierung und die Gefahren für das Finanzsystem“.

Die rechtspopulistische spanische Partei Vox setzt stark auf traditionelle Themen wie Vaterland und Familie. Mit ihnen inszeniert sich Vox-Chef Santiago Abascal als Jugendversteher. „Sagt ihnen, dass ihr dasselbe wollt wie eure Eltern: Vaterland, Freiheit, Zukunft!“, ruft er in einem Werbespot seiner Partei Hunderten von jungen Spaniern von einer Bühne aus zu. Die schwenken spanische Flaggen, Fächer in den spanischen Nationalfarben oder grüne Vox-Luftballons.

„Die Partei schafft ein Ideal eines Staates, der vielleicht nie existiert hat, aber es verfängt bei einigen jungen Wählern“, sagt Mélany Barragán von der Universität Valencia. Vox hat bei den Parlamentswahlen im vergangenen Juli zwar 19 der zuvor 52 Sitze verloren. Bei den Jungen hat die Partei jedoch an Popularität zugelegt: In einer Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts CIS gaben 10,4 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an, für Vox votiert zu haben. Vor der Wahl 2019 sagten das nur 3,3 Prozent von ihnen. Auch die Wähler von Chega in Portugal seien im Schnitt jünger als die der anderen Parteien, so Manucci.

4. Trendy auf Tiktok

„In einigen Ländern ist es trendy geworden, rechtsextreme Parteien zu wählen“, sagt Pawel Zerka von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Das gelte vor allem für junge Männer. Die Politiker vom rechten Rand wiederum versuchen, mit zur Schau gestellter traditioneller Maskulinität besonders beim männlichen Nachwuchs zu punkten. Wie etwa der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, der aktuell wegen Spionageverdachts gegen einen seiner Mitarbeiter unter Druck steht. Wenn Krah in Internetvideos zur deutschen Jugend spricht, dann klingt er so: „Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? Schau keine Pornos, wähl nicht die Grünen, geh raus an die frische Luft!“ Sein Lebenstipp: „Echte Männer sind Patrioten, dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In Österreich fährt die FPÖ diese Strategie schon lange: Als Heinz-Christian Strache die rechtspopulistische Partei 2005 in seinen Dreißigern übernahm, machte er in klarer Abgrenzung zu den traditionellen und angestaubten Großparteien SPÖ und ÖVP seine vermeintliche Jugendlichkeit zum Markenzeichen. Damals war noch Facebook das angesagte Netzwerk der Jungen, dort präsentierte sich Strache auf Fotos in Discos, mit ausgeschnittenem Shirt, Wodka und Red Bull griffbereit. Über den Lifestyle stolperte der damalige Vizekanzler 2019 dann aber im sogenannten Ibiza-Skandal, der seine politische Karriere beendete. Der aktuelle FPÖ-Chef Herbert Kickl ist deutlich zurückhaltender, dennoch ist sein Tiktok-Account mit Ausschnitten aus Reden und Interviews der erfolgreichste eines Politikers in Österreich. Bei Wählern unter 30 und insbesondere jungen Männern ist die Partei nach wie vor die populärste.

Ihre Botschaften an die junge Generation verbreiten die Rechtsaußenparteien bevorzugt auf von jungen Menschen genutzten Plattformen wie Tiktok – und sind dort umtriebiger als die etablierten Parteien. „Die meisten jungen Leute lesen heute keine Theoretiker mehr, wie es die 68er-Jugend mit Sartre oder Simone de Beauvoir getan hat“, sagt Barragán von der Uni Valencia. „Heute geht es mehr um Emotionen und Narrative. Und genau damit ziehen rechtsradikale Parteien in den sozialen Netzwerken erfolgreich die Aufmerksamkeit junger Menschen auf sich.“ Die sozialen Netzwerke ermöglichen es den Populisten auch, etablierte Medien zu umschiffen, die rechte Positionen einordnen oder warnende Kommentare veröffentlichen.

Vor allem Tiktok nimmt an Bedeutung zu: Inzwischen nutzt in Deutschland mit 51 Prozent mehr als die Hälfte aller 14- bis 29-Jährigen die App regelmäßig, vor einem Jahr waren es noch 44 Prozent. Die AfD ist auf Tiktok schon lange aktiv. Einer Auswertung des Politikberaters Johannes Hillje zufolge hatte sie dort von Anfang 2022 bis März 2024 mehr Präsenz als alle anderen Bundestagsparteien zusammen gezeigt. Das zeige, dass die teilweise vom Verfassungsschutz beobachtete AfD „die effektivste Tiktok-Kommunikation unter den Parteien betreibt“, sagt Hillje. „Die ‚Generation Tiktok‘ droht zu einer ‚Generation AfD‘ zu werden.“

Ein ähnliches Bild zeigt sich in anderen europäischen Staaten: Bardella hat auf Tiktok 1,2 Millionen Follower, so viele wie kaum ein anderer Politiker in Frankreich. Und in Italien hat Giorgia Meloni die sozialen Medien zum zentralen Kommunikationsinstrument ihrer Regierung gemacht. Pressekonferenzen gibt Meloni selten, Zeitungsinterviews kaum. In der virtuellen Öffentlichkeit der Netzwerke liefert sie stattdessen täglich Fotos und Videoschnipsel an ihre wachsende Follower-Schar: 2,9 Millionen sind es bei Facebook, 2,7 Millionen bei Instagram, 2,2 Millionen bei X, 1,5 Millionen bei Tiktok.

5. Melonis Marsch durch die Institutionen

„Italia cambia l’Europa“ steht unter der Zeltdecke, „Italien ändert Europa“. Daneben prangt das Logo der Fratelli d’Italia mit der grün-weiß-roten Flamme, einer Reminiszenz an die neofaschistischen Wurzeln der Partei. Hinter der Bühne schimmert durch eine Plastikplane die Bucht von Pescara hindurch, einer Hafenstadt an der Adriaküste. Mehr als zwei Stunden Programm sind schon vorbei, als der Moderator Ende April endlich „die junge Frau“ ankündigt, „die die italienische Rechte in die Hand genommen hat“, die „unsere Träume hat fliegen lassen“. Er meint Meloni. Italiens Ministerpräsidentin hat erreicht, wovon andere Rechtsaußenparteien in Europa träumen: die Übernahme der Regierungsmacht.

Meloni blickt von der Bühne auf ein Meer aus Fratelli-Fahnen. Etwa drei Autostunden von Pescara entfernt pilgerten am gleichen Tag etwa 150 Rechtsextremisten zum Grab des „Duce“ in seinem Geburtsort Predappio. Es ist der Todestag des Faschistenführers Benito Mussolini. Meloni verliert in ihrer Rede kein Wort über den Faschismus oder gar über Mussolini. Sie hetzt auch nicht gegen Deutschland oder Frankreich wie noch im Parlamentswahlkampf 2022.

Stattdessen preist Meloni Erfolge beim Dauerthema Migration an, wie etwa das Abkommen zwischen der EU und Tunesien, das „unter dem starken Druck“ ihrer Regierung entstanden sei. „Zusammen ändern wir auch Europa!“, ruft sie am Ende ihrer Rede – und singt dann, umringt von strahlenden jungen Männern und Frauen, die Nationalhymne.

Meloni ist salonfähig geworden. Sie pflegt ein gutes Verhältnis zu US-Präsident Joe Biden, unterstützt die Ukraine im Kampf gegen Russland, lächelt immer wieder mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in die Kameras. Dass Meloni das Land gesellschaftspolitisch deutlich nach rechts rückt, geht darüber weitgehend unter.

Melonis Wahlerfolg 2022 zog sich durch alle Schichten und Altersklassen. Auch bei den 25- bis 34-Jährigen holte die postfaschistische Partei laut mehreren Umfrageinstituten mit rund 23 Prozent die meisten Stimmen. Nimmt man die Stimmen für die rechte Lega und die konservative Forza Italia dazu, kommt man gar auf mehr als 40 Prozent in dieser Altersklasse. Selbst bei den noch Jüngeren (18 bis 24 Jahre) hat mehr als ein Viertel für die aktuelle Regierungskoalition gestimmt.

In einem Luxushotel an der Piazza della Repubblica, einem der prachtvollen Plätze Roms, wird der Saal schon früh wegen Überfüllung geschlossen. Es haben sich zu viele Fans von Matteo Salvini angemeldet. Italiens Vizepremier und Lega-Chef stellt hier am Mittwochabend seine Autobiografie vor. „Controvento“ heißt sie, „gegen den Wind“. Es sind vor allem grau melierte Anzugträger gekommen und einige Damen in Hosenanzügen, alle eher über 40. Aber auch Cristian Aurizi ist hier, 30 Jahre alt, Hemd und braune Lederjacke. Er hat Politikwissenschaften studiert, engagiert sich in der Jugendorganisation der Lega. In die Partei ist er eingetreten, als Salvini sie 2013 als Vorsitzender übernommen hat. Nach dem Auftritt kommt Aurizi mit einem signierten Buch in der Hand aus der Lobby, zeigt stolz die Widmung: „Per Cristian“.

„Mehr Italien! Weniger Europa!“, heißt der aktuelle Wahlslogan der Lega. Salvini gibt sich offen fremdenfeindlich, sprach zuletzt von einem neuen Europa, „das keine chinesische oder islamische Kolonie“ sein werde. Aurizi stört das nicht. „Salvini ist der Einzige, der unser Land verteidigt“, sagt der junge Mann. „Gegen Migranten, für unsere Traditionen, gegen grüne Häuser und Elektroautos.“

Wo Salvini rhetorisch kräftig hinlangt, softet Meloni eher ab. An ihrer Strategie der Normalisierung nimmt sich eine Reihe von rechten Parteien in Europa ein Beispiel, unter anderem der Rassemblement National in Frankreich, der selbst von einer „Entteufelung“ spricht. Harte Positionen wie der Austritt aus dem Euro oder aus der EU werd

zurückgenommen, die Rhetorik in der Migrationspolitik und bei anderen Reizthemen wird weichgespült.

Ein Gegenbeispiel ist laut Demokratieforscher Biard die AfD in Deutschland, die sich in den vergangenen Jahren eher radikalisiert habe. Doch in vielen anderen Ländern hätten sich diese Parteien verändert und versucht, „sich ihrer alten Dämonen zu entledigen“. Das Ziel sei es, als regierungsfähige Alternative zu erscheinen. Dieser Imagewandel funktioniere gerade bei jungen Wählern, die sich nicht an das frühere Auftreten erinnern können.

6. Brüssel in Sorge

Das Berlaymont-Gebäude ist ein kreuzförmiger Komplex aus Glas und Stahl, die Architektur soll Transparenz symbolisieren. Doch für das Rechtsaußenlager und seine Anhänger ist die dort ansässige EU-Kommission eine ebenso intransparente wie abgehobene Machtzentrale. Die Stimmungslage insbesondere bei enttäuschten Jugendlichen wird im Machtzentrum der EU sehr genau registriert. Vor der letzten Europawahl habe es auf Schulpodien nur zwei Themen gegeben, erzählt die EU-Abgeordnete Svenja Hahn (FDP): den Klimawandel und Uploadfilter. Heute werde sie von jungen Menschen immer häufiger zu Sicherheits- und Migrationspolitik, aber auch zu Wirtschaft und Rente befragt.

Dass die Stimmung heute eine andere als vor fünf Jahren ist, ist auch der konservativen EVP-Fraktion aufgefallen. Beim Gesetz zur Wiederherstellung der Natur stimmten die Konservativen gemeinsam mit den beiden rechten Fraktionen Europäische Konservative und Reformer (EKR) sowie Identität und Demokratie (ID) gegen den Gesetzentwurf. Bei der Abstimmung über die Euro-7-Abgasnorm gingen die Konservativen noch weiter: Hier setzten sie von Anfang an auf eine Allianz mit den Parteien am äußeren rechten Rand und erarbeiteten einen Kompromiss, dem mehrheitlich nur die Konservativen, die Rechten und die Liberalen zustimmten.

Die Zusammenarbeit der Konservativen mit den Rechtspopulisten mag in deutschen Landtagen noch ein politisches Tabu sein – auf europäischer Ebene ist es längst gebrochen. Bei einer Wahlkampfdebatte der Spitzenkandidaten Ende April schloss von der Leyen eine Kooperation mit der EKR im EU-Parlament nicht aus. Zur EKR gehört unter anderem die Fratelli d’Italia.

7. Aufklärung hilft

Eines fällt beim wachsenden Zustrom junger Europäer zu rechtspopulistischen Bewegungen immer wieder auf: „Für den Erfolg von rechten Bewegungen ist es nicht entscheidend, ob eine Ungerechtigkeit objektiv besteht oder nur subjektiv empfunden wird“, sagt die Anthropologin Julia Ebner, die in Oxford zu rechtem Extremismus und Islamismus forscht.

Die etablierte Politik in den Staaten der Europäischen Union, vielerorts seit Jahrzehnten darauf trainiert, objektiv bestehende Probleme mit Geld zuzuschütten, tut sich schwer mit solchen subjektiven Befindlichkeiten. Die Rechtspopulisten hingegen schlachten sie laut Ebner nach Kräften aus, etwa indem sie über die sozialen Medien Missstände aus anderen Ländern verbreiten, verbunden mit der suggestiven Frage: „Wird es bei uns bald auch so aussehen?“

Ebner setzt auf Aufklärung über die sozialen Medien, in denen Rechtspopulisten verstärkt ihre Verführungsarbeit leisten: „Ein ganz wichtiger Punkt wäre es, im Bildungsbereich die Schnittstelle zwischen Psychologie und Digitalkompetenz zu behandeln.“ Junge Menschen müssten wissen: „Wie wirken digitale Räume auf mich, was machen sie mit meiner Identität? Wie lassen sich diese Mechanismen missbrauchen, um mich zu manipulieren?“

Eine Aufklärungsarbeit, die nicht nur angesichts der derzeitigen rechtspopulistischen Welle sinnvoll wäre. Ansonsten bleibt die lakonische Aussicht: Wenn rechte Populisten derzeit bei jungen Wählern cool sind, dann werden sie es auch irgendwann nicht mehr sein. Fragt sich nur, wie lange das dauert und was bis dahin mit der Demokratie in Europa geschieht.