Kommunalwahlen in der Türkei: Wie der Verlierer in Van zum Sieger wurde

                             Geschichte von Friederike Böge/ FAZ

 

 

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Wütende DEM-Mitglieder: In Van protestieren sie am 2. April 2024 gegen die Entscheidung der Wahlbehörde, den Zweitplatzierten zum Bürgermeister zu ernennen. © Arif Aslan/VOA

 

Der Einspruch der Staats­anwaltschaft gegen die Kandidatur von Abdullah Zeydan kam am letzten Arbeitstag vor den Kommunalwahlen. Am vergangenen Freitag. Genau fünf Minuten vor Büroschluss. Die Wähler in der Provinzhauptstadt Van, tief im Osten der Türkei, kurz vor der ira­nischen Grenze, erfuhren davon nichts. Zeydan, der Bürgermeisterkandidat der kurdischen DEM-Partei, gewann bei der Abstimmung am Sonntag mit 55 Prozent der Stimmen. Weit abgeschlagen auf Platz zwei landete der Kandidat der Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit 27 Prozent. Dennoch entschied die lokale Wahlbehörde am Dienstag, ihn und nicht den Wahlsieger zum neuen Bürgermeister zu ernennen.

Aus Protest versammelten sich Tausende vor der DEM-Parteizentrale. In der kleinen Provinzhauptstadt am pittoresken Van-See fuhren gepanzerte Fahrzeuge auf. Die Polizei ging mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Gummigeschossen gegen die Demonstranten und gegen berichtende Journalisten vor. Auf Fotos sind brennende Barrikaden zu sehen. Zu Protesten kam es auch in den benachbarten Provinzen Hakkari, Siirt und Bitlis. Nach Angaben des Innenministeriums gab es 89 Festnahmen. Der Gouverneur von Van, ein von der Zentralregierung ernannter Beamter, verhängte am Mittwoch ein zweiwöchiges Protestverbot. Es gilt nicht nur für Demonstrationen, sondern auch für „jede Art von Pressestatements“, Unterschriftenaktionen oder die Verteilung von Flugblättern. Außerdem verhängte der Gouverneur ein Ein- und Ausreiseverbot für „Individuen und Gruppen, die mit gewisser Wahrscheinlichkeit an illegalen Protesten oder Veranstaltungen teilnehmen könnten“. Ähnliche Einschränkungen wurden für Bitlis und einen Bezirk in Siirt erlassen.

Schon 2016 kurdische Bürgermeister abgesetzt

Der Fall sagt einiges aus über den Zustand des Rechtsstaates in der Türkei. Wahlsieger Zeydan war im November 2016 wegen „Unterstützung einer Terrororganisation“ und Terrorpropaganda verurteilt worden. Er verbrachte fünf Jahre hinter Gittern, so wie viele DEM-Poli­tiker. Grund dafür waren Äußerungen nach dem Scheitern des Friedensprozesses von 2015 zwischen dem Militär und der PKK-Miliz. Zeydan bezeichnete die PKK damals als „Friedens- und Volksbewegung“ und sagte: „Die PKK ist mächtig genug, euch in ihrer Spucke zu ertränken.“ Das Oberste Berufungsgericht hob das Urteil gegen ihn später auf.

Nach eigenen Angaben ließ Zeydan sich ein Jahr vor der Kommunalwahl gerichtlich bestätigen, dass er alle politischen Rechte zurückerlangt habe. Dieses Urteil eines Gerichts in Diyarbakır reichte er mit seinen Unterlagen bei der Anmeldung seiner Kandidatur ein. Die Wahlbehörde bestätigte ihn nach der nötigen Prüfung als Kandidaten. Während des dreimonatigen Wahlkampfs erhob niemand Einspruch. Erst zwei Tage vor Wahl fiel der Staatsanwaltschaft in Diyarbakır ein, dass sie über das Gerichtsurteil zu Zeydans Rückerlangung seiner Rechte nicht informiert worden sei. Auf Betreiben des Justizminis­teriums hob das Gericht sein eigenes Urteil wieder auf. Die DEM hat Einspruch ge­gen die Aberkennung des Wahlsiegs eingelegt. Mit der Begründung, das Justizministerium selbst habe Zeydan das einwandfreie Führungszeugnis ausgestellt. Die Sprecherin der Partei, Ayşegül Doğan, sprach von einem „neuen Tiefpunkt der antidemokratischen Methoden“. Die Partei sei bei der Auswahl der Kandidaten „akribisch“ vorgegangen, „weil wir wussten, dass wir mit so etwas konfrontiert werden würden“. Tatsächlich ist das Vorgehen nicht neu. Schon 2016 hatte der Staat in den kurdischen Gebieten etliche Bürgermeister und Stadträte der kurdischen Partei, die damals noch HDP hieß, abgesetzt. Sie wurden durch Zwangsverwalter ersetzt. Nach den Kommunalwahlen von 2019 wiederholte sich die Farce mit anderen Mitteln.

Republikaner solidarisieren sich mit Kurden

Damals wurden die Gewählten durch die zweitplatzierten AKP-Kandidaten ersetzt. Zum Beispiel die DEM-Politikerin Gülcan Kaçmaz Sayyiğit, die zur Bezirksbürgermeisterin von Edremit in der Provinz Van gewählt wurde. Grundlage für die Annullierung ihres Sieges war die Entscheidung eines Notstandskomitees, das nach dem Putschversuch von 2016 eingesetzt worden war. Zur Begründung hieß es, Sayyiğit habe sich widerrechtlich für muttersprachlichen Unterricht auf Kurdisch eingesetzt und dagegen protestiert, dass die erhöhte Militärpräsenz nach dem Putschversuch Kinder davon ab­hielt, zur Schule zu gehen. Daraus wurde eine Nähe zur PKK konstruiert. Ein entsprechendes Gerichtsurteil gab es nie. Im vergangenen Jahr wurde sie ins nationale Parlament gewählt. „Für die Kommunalwahl wurden Kandidaten ausgewählt, die nicht leicht angreifbar sind“, sagte sie der F.A.Z. in Van kurz vor der Wahl. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, dass die PKK Einfluss auf die Kandidatenliste nehmen könnte, waren sie durch Vorwahlen ausgewählt worden.

Die DEM bekam am Mittwoch Unterstützung von der Republikanischen Volks­partei, die als Sieger aus den Kommunalwahlen hervorgegangen war. Der Vorsitzende, Özgür Özel, sprach von ei­nem Angriff auf den Wählerwillen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte noch in der Wahlnacht versichert, dass er den Wählerwillen „unter keinen Umständen“ missachten werde. Der Sprecher seiner Partei wies nun Vorwürfe politischer Einflussnahme zurück. Alle Entscheidungen würden eigenständig von der unabhängigen Wahlbehörde getroffen.

Der in Van zum Sieger erklärte AKP-Kandidat Abdulahat Avraz hielt sich vorerst im Hintergrund. Vor der Wahl hatte er erklärt, er wolle regulär gewinnen und nicht als Zwangsverwalter eingesetzt werden. Der Sieger Zeydan appellierte an das Gewissen seines Kontrahenten. „Wie sollen wir uns künftig in die Augen sehen? Wie wollen Sie künftig Hochzeiten und Trauerfeiern besuchen?“ Van ist eine kleine Stadt. Vom Flughafen in die Innenstadt fährt man knapp zehn Minuten. In allen Stadtbezirken siegte die DEM.

In anderen Städten der Region warteten die siegreichen DEM-Kandidaten am Mittwoch weiterhin auf ihre Ernennungsurkunden. So auch in Diyarbakır, wo die deutschsprachige Serra Bucak mit 64 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Die AKP hat das Ergebnis angefochten. Die Wahlbehörde hat bis zum heutigen Donnerstag Zeit für eine Entscheidung.