Ich verlasse das Land nicht wegen der AfD und bleibe auch nicht trotz der AfD –
ich bleibe, weil Deutschland mein Zuhause ist
Vor zwei Jahren begab ich mich für mein MBA-Studium nach New York. Zwischen den anspruchsvollen Vorlesungen an der Columbia University und den touristischen Erkundungen der Stadt fand ich einen ruhigen Moment für einen Spaziergang allein um den Bryant Park. Dieser Park inmitten der Großstadt bot mir Gelegenheit, meine Gedanken zu sortieren und Eindrücke zu verarbeiten. Währenddessen stieß ich auf ein Zitat auf dem Boden, das mich zum Nachdenken brachte: "Es gibt nur zwei, drei Geschichten in der Menschheit, die sich immer wieder wiederholen, als wären sie nie passiert."
Dieses Zitat regte in mir zunächst ein Gefühl von Widerstand: ‘So einfach ist es nicht, die Welt ist so komplex’, war mein erster Gedanke. Dann hielt ich inne und dachte weiter nach: ‘Kann es wirklich sein, dass es nur so wenige grundlegende Geschichten gibt, die sich endlos wiederholen, als hätten sie nie zuvor stattgefunden?’
Fast zwei Jahre sind seit diesem Moment vergangen, und dieser Gedanke hat sich fest in meinem Bewusstsein verankert. Er hat meinen Blick auf Konflikte und gesellschaftliche Muster grundlegend verändert.
Für mich symbolisiert dieses Zitat die Idee, dass es zeitlose Muster und Themen in der Geschichte der Menschheit gibt, die sich trotz variierender äußerer Umstände in allen Zeiten und Kulturen ähneln. Die aktuellen Krisen sind somit selten Neuheiten in ihrem Kern, die es in der Menschheitsgeschichte nie gegeben hat, sondern lediglich eine andere Ausprägung. Es geht immer um dieselben grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, die sich in jeder Generation manifestieren.
Welche sich immer wiederholenden Geschichten nehmt ihr wahr?
Vor zwei Wochen nahm ich an einer Demonstration gegen Rechtsextremismus teil, als Reaktion auf die Pläne der AfD, die von "Correctiv" aufgedeckt wurden. Ich ging zu der Demo, um ein Zeichen für Vielfalt und Demokratie zu setzen. Doch als ich Zeugin wurde, wie Hassparolen gerufen wurden, geriet ich ins Grübeln. Sind wir besser als die Menschen, die andere hassen, wenn wir sie zurück hassen? Sind wir besser, wenn wir die Menschen wegschicken, die andere Menschen wegschicken wollen? Ich fragte mich, ob ich in dem Moment wirklich für Vielfalt einstand.
Wir erzählten uns wieder eine Geschichte von guten und bösen Menschen. Es scheint mir, als ob alle paar Jahre neue Feindbilder geschaffen werden, während die Denkmuster dahinter unverändert bleiben und sich immer wiederholen. Wir stecken scheinbar in einem endlosen Zyklus von "wir" gegen "die". Doch die entscheidende Frage lautet: Wer ist überhaupt dieses "wir" und wer sind "die"?
Ich gehöre nicht zu einem "wir", das andere hasst. Ich stehe für Vielfalt. Aber ich weiß, dass gelebte Vielfalt auch oft herausfordernd sein kann. Ich selbst habe auch Schwierigkeiten damit, fremde Denkmuster auszuhalten oder den Dialog zu suchen. Dennoch gebe ich mir immer weiter Mühe, dies zu tun. Und ich verstehe, dass es für andere Menschen auch schwierig sein kann, mit mir zu sprechen, wenn ich in keine ihrer Schubladen passe. Doch gegenseitiger Hass ist definitiv nicht die Lösung, und sich auf der vermeintlich richtigen Seite zu wissen, reicht mir in der Auseinandersetzung gegen Rechtsextremismus nicht aus.
Wir müssen erkennen, dass gut gemeinte Aktionen, wie Demonstrationen, manchmal ungewollt ähnliche Denkmuster reproduzieren können, die ebenso problematisch sind. Deshalb ist es meiner Meinung nach wichtig, die eigenen Positionen und Handlungen zu reflektieren und ein Bewusstsein für ihre Wirkung aufzubauen. Es reicht nicht, sich von jeglichem Extremismus zu distanzieren. Oder sein Kreuz bei der Wahl bei einer Partei zu setzen, die nicht in Teilen rechtsextrem ist. Wir müssen uns aktiv für positive Werte einsetzen und Diskriminierung und Ungerechtigkeit im eigenen Umfeld ansprechen. Wir dürfen im Alltag in rassistischen Situationen nicht wegschauen.
Demokratie ist kein passiver Prozess, sie lebt von unseren Worten und Taten
In der deutschen Geschichte zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Besonders in Zeiten von Unsicherheit tendieren wir dazu, unsere Identität zu stärken, indem wir Probleme auf "andere" projizieren. Diese Erkenntnis sollte uns als Ansporn dienen, wachsamer zu sein und aus der Vergangenheit zu lernen. Schließlich kann der strukturelle Rassismus in Deutschland weder durch Ausgrenzung noch durch Schuldzuweisungen an Migrantengruppen gelöst werden. Migranten sind weder das Problem noch die Lösung für den strukturellen Rassismus in Deutschland. Das Problem ist die gelebte Leitkultur. Eine AfD muss nicht erst ihre rechtsextremen Deportationspläne umsetzen.
Schon der schiefe Blick an der Kasse, wenn man etwas falsch ausgesprochen hat, sind ein Problem. Und während wir darüber debattieren, Vielfalt in der Gesellschaft zu akzeptieren und wertzuschätzen, ist dies eindeutig leichter gesagt oder geschrieben als getan. Ich muss gestehen: Ich konnte das nicht einmal mit meiner eigenen Identität für lange Zeit.
Auf der einen Seite gibt es die Neigung, in Überlegenheitsfantasien der deutschen Kultur zu schwelgen und Migranten auszugrenzen, weil sie den unausgesprochenen Erwartungen nicht entsprechen. Auf der anderen Seite können sich Migranten als Reaktion auf Diskriminierung und Rassismus vom Deutschsein distanzieren. Ich selbst habe diese Dynamik erlebt: Während meine Selbstidentifikation zwischen dem Deutsch Sein und Türkisch Sein gefühlt wöchentlich eine andere Ausprägung hatte als Jugendliche, gab es in der Vergangenheit auch eine Zeit, in der ich mich ausschließlich als Türkin identifizierte, um mich von dem rassistischen Deutschland abzugrenzen. Verletzungen und Diskriminierung führten dazu, dass ich nichts mit dem Deutschsein zu tun haben wollte. So fühlte ich mich besser. Das war wiederum so deutsch von mir – das bedingungslose Ablehnen dessen, was mir nicht passt. Ich war so deutsch, dass ich nicht mehr deutsch sein wollte.
Als ich in meiner Kindheit rassistische Erfahrungen gemacht habe, die dazu geführt haben, dass ich nicht deutsch sein wollte, gab es die AfD noch nicht. Aber die rassistischen Denkmuster schon. Diese Erkenntnis spiegelt ein tiefgreifendes Problem wider: die Schwierigkeit, kulturelle Vielfalt in Deutschland – in der Gemeinde, in der Familie, in einem selbst – anzunehmen und auszuhalten. Und auch wenn es morgen die AfD nicht mehr gäbe, würden die Denkmuster überleben, solange wir den Fehler nicht nur im Außen, sondern proaktiv auch im Inneren suchen. So wie auch in meinem Fall. Ich musste erst Frieden mit den unschönen Seiten der deutschen und türkischen Identität schließen, um heute sagen zu können, dass ich beides bin und schätze. Denn wenn ich erwarte, dass “Deutsche” nicht nur die “guten Migranten” wertschätzen, dann sollte ich mit guten Beispiel vorangehen und selbst auch nicht nur die “guten Deutschen” dulden.
Wir müssen lernen, Vielfalt als Bereicherung zu sehen und nicht als Bedrohung. Es ist egal, wie wir die Schubladen nennen, ob Links gegen Rechts, Alt gegen Jung, Mann gegen Frau, Deutsch gegen Ausländer oder Mensch mit Migrationsgeschichte, solange wir uns selbst verherrlichen, in dem wir eine andere Gruppe niedermachen, gewinnen wir nichts. Wir führen nur das Muster fort, die Geschichte zu wiederholen. Und wir haben oft genug gesehen, dass diese Denkmuster zu nichts führen. Doch nur wenn wir diese wiederkehrenden Themen und Herausforderungen erkennen und verstehen, können wir auch klügere Entscheidungen für die Zukunft treffen und den Zyklus von Konflikten und Vorurteilen durchbrechen, um ein inklusives und zukunftsfähiges Deutschland zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um das Anerkennen von Unterschieden in einem oder um einen herum, sondern um das echte Einbeziehen und Wertschätzen aller Menschen und Aspekte, die Teil unserer Gesellschaft sind.
Ich verlasse Deutschland nicht wegen der AfD und bleibe auch nicht trotz der AfD. Ich bleibe, weil Deutschland mein Zuhause ist und ich daran glaube, dass wir gemeinsam eine inklusive Zukunft aufbauen können, obwohl ich weiß, dass es harte Arbeit sein wird.
Wie schreiben wir eine neue Geschichte?
In einer Welt, in der Veränderung die einzige Konstante ist, und diese Veränderungen schneller als je zuvor stattfinden, ist es unerlässlich, dass wir uns bewusst auf die Zukunft vorbereiten. Ansonsten werden wir immer gefangen in alten Mustern, getrieben von der Angst vor dem Ungewissen, eine Geschichte wiederholen, die keine Zukunft schreiben kann.
Das bedeutet, wir müssen gemeinsam an unseren Fähigkeiten arbeiten und die Werte, die wir in unserer Gesellschaft vertreten und fördern wollen, aktiv diskutieren. Für mich persönlich war der Weg zum inneren Frieden und der Fähigkeit, für Frieden in meinem Umfeld einzustehen, eine Reise der gnadenlosen Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Es geht nicht darum, lediglich Feindbilder zu verschieben, ohne dass ein tatsächlicher Wandel in den Denkmustern stattfindet.
Wir brauchen Empathie, denn Empathie ist mehr als nur das Mitfühlen mit anderen; sie ist die Fähigkeit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In einer Gesellschaft, die von Vielfalt geprägt ist, ermöglicht Empathie es uns, Brücken zu bauen, statt Gräben zu vertiefen. Indem wir die Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste anderer verstehen, können wir Konflikte deeskalieren und gemeinsame Lösungen finden. Empathie in der Praxis bedeutet, aktiv zuzuhören, eigene Vorurteile zu hinterfragen und sich zu bemühen, andere Kulturen und Lebensweisen zu verstehen und wertzuschätzen.
Wie schreiben wir eine neue Geschichte?
In einer Welt, in der Veränderung die einzige Konstante ist, und diese Veränderungen schneller als je zuvor stattfinden, ist es unerlässlich, dass wir uns bewusst auf die Zukunft vorbereiten. Ansonsten werden wir immer gefangen in alten Mustern, getrieben von der Angst vor dem Ungewissen, eine Geschichte wiederholen, die keine Zukunft schreiben kann.
Das bedeutet, wir müssen gemeinsam an unseren Fähigkeiten arbeiten und die Werte, die wir in unserer Gesellschaft vertreten und fördern wollen, aktiv diskutieren. Für mich persönlich war der Weg zum inneren Frieden und der Fähigkeit, für Frieden in meinem Umfeld einzustehen, eine Reise der gnadenlosen Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Es geht nicht darum, lediglich Feindbilder zu verschieben, ohne dass ein tatsächlicher Wandel in den Denkmustern stattfindet.
Wir brauchen Empathie, denn Empathie ist mehr als nur das Mitfühlen mit anderen; sie ist die Fähigkeit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In einer Gesellschaft, die von Vielfalt geprägt ist, ermöglicht Empathie es uns, Brücken zu bauen, statt Gräben zu vertiefen. Indem wir die Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste anderer verstehen, können wir Konflikte deeskalieren und gemeinsame Lösungen finden. Empathie in der Praxis bedeutet, aktiv zuzuhören, eigene Vorurteile zu hinterfragen und sich zu bemühen, andere Kulturen und Lebensweisen zu verstehen und wertzuschätzen.
Burcu Arslan war in der Führung mehrerer Unternehmen und TEDx Speakerin. Zur Zeit macht sie ein Sabbatical. Arslan ist Mitglied im MPower-Netzwerk von Business Insider.