Türkei: "Gerechtigkeitsmarsch" gegen Recep Tayyip Erdogan

"Gerechtigkeitsmarsch" nach Istanbul Onkel Kemal nimmt es mit Erdogan auf

"Adalet" - Gerechtigkeit: Kemal Kilicdaroglu marschiert von Ankara nach Istanbul, im Regen oder bei 45 Grad. Die Regierung verspottete seinen Protest. Inzwischen laufen 10.000 Menschen mit. Und Präsident Erdogan hat ein Problem.

Kaum jemand in der Türkei nahm Kemal Kilicdaroglu, den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP), ernst, als dieser vor drei Wochen ankündigte, er werde von Ankara nach Istanbul marschieren. Die Aktion sollte ein Protest gegen die Verhaftung seines Parteifreunds Enis Berberoglu sein.

Präsident Recep Tayyip Erdogan tat den "Adalet Yürüyüsü" (deutsch: "Gerechtigkeitsmarsch") als halbgare Idee der CHP ab. Und die meisten Oppositionellen sahen das genauso.

Inzwischen hat Kilicdaroglu fast 350 Kilometer zurückgelegt. Jeden Tag schließen sich mehr Menschen seinem Marsch an. Die Polizei schätzt die Zahl der Demonstranten auf über 10.000. Längst wagt niemand mehr, über Kilicdaroglu zu spotten. Der "Adalet Yürüyüsü" gilt als wichtigste Geste des Widerstands in der Türkei seit den Gezi-Protesten 2013.

Am Dienstagmorgen setzt sich der Treck von der Stadt Izmit am Marmarameer aus in Bewegung. Es sind noch knapp 100 Kilometer bis nach Istanbul, wo Beberoglu im Stadtteil Maltepe im Gefängnis sitzt, und wo der Marsch am Sonntag mit einer Großkundgebung enden soll. An den Vortagen heizte die Sonne die Luft auf bis zu 45 Grad. Nun fällt warmer Regen, Wind fegt über die Autobahn E5 hinweg. Die T-Shirts der Demonstranten sind durchnässt.

Kilicdaroglu, 68 Jahre alt, hat als Finanzbeamter gearbeitet, bevor er in die Politik einstieg. Er blieb auch als Chef der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP, zunächst Bürokrat. Kilicdaroglu gilt als umgänglich, aber zugleich als ängstlich und ideenlos. Journalisten rufen ihn "Onkel Kemal". Jemand wie er, sagen sie, könne es unmöglich mit einem Machtpolitiker wie Erdogan aufnehmen.

Protestmarsch auf dem Weg nach Istanbul

Lange Zeit scheute Kilicdaroglu die offene Konfrontation mit dem türkischen Präsidenten. Seine Partei stimmte im Mai vergangenen Jahres im Parlament für die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten. Die CHP wollte damals verhindern, als Terrorhelferin dazustehen. So ebnete sie der Regierung den Weg, Oppositionelle wie Berberoglu oder Selahattin Demirtas, den Chef der prokurdischen HDP, zu verhaften.

Erdogan hat Demonstranten als Terroristen denunziert

Auch nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 suchte Kilicdaroglu den Schulterschluss mit der Regierung. Er beriet sich mit dem Premier, Binali Yildirim, über Anti-Terror-Gesetze und trat in Istanbul gemeinsam mit Erdogan vor Millionen Menschen auf.

Erst nach dem Verfassungsreferendum im April hat Kilicdaroglu seinen Kurs korrigiert. Er warf Erdogan Wahlbetrug vor. Ein Gericht verurteilte am 14. Juni CHP-Vizechef Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft. Er soll Informationen über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an Extremisten in Syrien an die Tageszeitung "Cumhuriyet" weitergegeben haben. Nun ging Kilicdaroglu zum Angriff über. "Die ganze Welt soll hören: Wir sind in der Türkei einer Diktatur ausgesetzt", sagt er. "Wir müssen gemeinsam für die Zukunft dieses Landes kämpfen."

Marsch der türkischen Opposition: Der lange Weg nach Istanbul

Die Demonstranten legen jeden Tag etwa 20 Kilometer zurück. Sie skandieren: "Freiheit! Recht! Gerechtigkeit!" Prominente, wie Abdüllatif Sener, Mitgründer der Regierungspartei AKP, oder die Schriftstellerin Asli Erdogan beteiligen sich an der Aktion. Beobachter vergleichen den "Adalet Yürüyüsü" bereits mit Gandhis "Salzmarsch" in Indien 1930.

Für Präsident Erdogan wird der Marsch zunehmend zum Problem. Er hat die Demonstranten als Terroristen denunziert ("Was unterscheidet Euch von den Putschisten vom 15. Juli?") und rechtliche Schritte angedroht. Doch er hat die Bewegung nicht gestoppt. Der Präsident muss nun fürchten, dass sich der Marsch zu einem Massenprotest ausweitet, sobald der Treck Istanbul erreicht.

Kilicdaroglu hat mit seinem Vorstoß schon jetzt bewiesen, dass die türkische Opposition trotz all der Rückschläge der vergangenen Jahre, lebt. Sollte Erdogan jetzt intervenieren, würde er den CHP-Chef endgültig zum Helden machen.