Analyse von Ulrich Reitz - Kanzler-Reaktion auf Erdogans Sieg ist ein schwerer Schlag für Baerbock
Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz
Der islamistische Autokrat Erdogan gewinnt die Wahl in der Türkei. Und der Westen legt sich schneller in die Kurve als man gucken kann. Allen voran Olaf Scholz. Dem Sozialdemokraten sind Deutschlands Interessen allemal wichtiger als die Moralvorstellungen seines grünen Koalitionspartners.
Eine „Zeitenwende“ Deutschlands im Verhältnis zur Türkei, wie sie der türkisch-stämmige Grünen-Minister Cem Özdemir fordert, ist weder außen- noch innenpolitisch in Sicht. Nach seiner Wiederwahl hat der islamistische und nationalistische türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr oder weniger freie Bahn.
Scholz' Reaktion zeigt: Wertegeleitet Außenpolitik ist Ilusion
Einmal mehr entpuppt sich die von den Grünen favorisierte „wertegeleitete Außenpolitik“ als Illusion. Denn: Als erster deutscher Spitzenpolitiker gratulierte, gleich nach den afghanischen Religions-Terroristen von den Taliban, Bundeskanzler Olaf Scholz Erdogan zu dessen Wiederwahl.
Dabei verlor der Sozialdemokrat kein Wort über: Die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei, die Leugnung des Genozids an den Armeniern, den Machtanspruch der Sunniten in der türkischen Gesellschaft, die Unterdrückung von Christen, aber auch von Aleviten, dem von den Türken auch in Deutschland manipulierten Wahlkampf, von grassierendem Islamismus oder Nationalismus.
Interessengeleitete Realpolitik eben. Der aus der Türkei nach Deutschland geflohene Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar bezichtigte Scholz daraufhin der „Komplizenschaft“ mit Erdogan.
Özdemir bemühte den Vergleich mit Putin, in dessen Fall auch niemand in Deutschland eine „Zeitenwende“ für möglich gehalten habe. Der Unterschied: Ein „Decoupling“ Deutschlands von der Türkei ist, anders als eine Abkopplung von Russland, nicht möglich. Im Verhältnis Deutschlands zur Türkei zählt nicht (grüne) Moral, sondern harte Interessen
Erdogan wird Erfolg haben
Niemand machte das so schnell so deutlich wie ein Kollege von Scholz. US-Präsident Joe Biden gab bekannt, er habe bei seinem Glückwunsch-Telefonat mit Erdogan über die Lieferung amerikanischer F-16-Jäger gesprochen.
Damit zeichnet sich ein Deal ab, der auch im deutschen Interesse ist: Die USA liefern Erdogan, was der schon lange verlangt, nämlich die hochpotenten F-16-Flugzeuge. Im Gegenzug macht Erdogan den Weg frei für eine Aufnahme Schwedens in die Nato. Die blockiert Erdogan bisher – unter Hinweis auf die Toleranz, die Schweden türkischen Kurden gewährt, die aus Sicht des türkischen Alleinherrschers „Terroristen“ sind.
Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato ist eine Folge des von Wladimir Putin entfesselten völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Nato wächst und kommt gleichzeitig der russischen Grenze ein großes Stück näher, eine drastische Niederlage Putins.
Erdogan wird am Ende mit seiner Erpressung Erfolg haben: er bekommt die F-16-Maschinen, womit sich – paradox genug – die Spannungen zwischen der Türkei und einem weiteren Nato-Mitglied erhöhen werden. Mit vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiert kein Nato-Land so viel Geld für Verteidigung wie Griechenland. Was der jahrzehntealten Gegnerschaft zur Türkei geschuldet ist.
Unterschied zwischen interessen- und wertegeleiteter Außenpolitik wird deutlich
Aber für die Nato, vor allem für die Amerikaner, ist die Türkei der wichtigere Partner als Griechenland. Dafür drücken auch die Amerikaner mehr als ein Auge zu. Und lassen der Türkei durchgehen, dass Erdogan sich bei Amerikas Systemfeind Putin mit einem russischen Raketen-Abwehrsystem versorgte.
Am Beispiel der Türkei lässt sich der Unterschied zwischen interessen- und wertegeleiteter Außenpolitik gut studieren. Er besteht darin, dass wertegeleitete Außenpolitik wenig bis nichts verändert, interessengeleitete Außenpolitik aber schon. Die absehbare Mitgliedschaft Schwedens in der Nato wird dafür ein schlagendes Beispiel sein.
Mit gutem Willen allein oder moralisierenden Ansprachen wäre das nicht zu erreichen gewesen. Wertegeleitete Außenpolitik hat den Vorteil, dass man sich damit – gebührenfrei - den eigenen Anhängern als Vertreter der „richtigen Haltung“ präsentieren kann.
Wertegeleitete Außenpolitik ist Baerbock wichtig
Der Gegensatz in den Konzepten ist auch ein Gegensatz beim politischen Personal. Schon bei der China-Politik hat sich gezeigt, dass der Bundeskanzler nichts wissen will von dem moralischen Ansatz, den die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verfolgt und der ihr so wichtig ist. Eine China-Strategie der Bundesregierung liegt deshalb seit Monaten auf Eis.
In der Türkei dürfte sich nach Erdogans Erfolg der Nationalismus in Kombination mit dem politischen Islam, den der Autokrat propagiert, noch verstärken. Für beides hat Erdogan nun mehr Rückendeckung als zuvor, nicht zuletzt durch das Verhalten seines Kontrahenten Kilicdaroglu, der Erdogan kurz vor dem Stich-Wahltag noch rechtsradikal überholen wollte.
Der Istanbuler Bürgermeister versprach, die vier Millionen von der Türkei aufgenommenen syrischen Flüchtlinge aus dem Land zu werfen. Das hätte bei einem Wahlsieg Kilicdaroglus deren Massenflucht Richtung Europa – Zielland Nummer eins: Deutschland – ausgelöst.
Die Grünen hatten aufgerufen, Erdogan nicht zu wählen. Durch das extremistische Verhalten des Erdogan-Gegners wurden ihre Hoffnungen auf einen demokratischen Wechsel in der Türkei als Illusion entlarvt. Auch dies zeigt: Mit Hoffnungen Politik machen zu wollen, kann
Zeitenwende wird es nicht geben
Die von Cem Özdemir geforderte Zeitenwende im Verhältnis Deutschlands zur Türkei nach Erdogans Wahlsieg wird eine fromme Illusion bleiben. Olaf Scholz, der Inhaber der Richtlinienkompetenz, ist ein Real-, kein Moralpolitiker. Deutschland braucht die Türkei, auch für den Flüchtlingsdeal, den schon Angela Merkel (CDU) mit Erdogan geschlossen hatte.
Erdogan hat nicht nur in der Türkei selbst und außenpolitisch freie Bahn, seine hunderttausenden Anhänger in Deutschland haben es auch. Dank des Appeasements deutscher Politik, die längst weitgehend unkritisch und parteiübergreifend einer grünen Integrationserzählung folgt.