Frankfurter Allgemeine Zeitung

 Erdogan wiedergewählt: Die Türkei entscheidet sich gegen Europa

Artikel von Nikolas Buss

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan am Wahlabend in Kahramanmaras

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Es gibt gute Gründe, den Wahlsieg Erdogans nicht als fair zu betrachten. Der Präsident und seine AKP haben große Teile der Medien unter ihrer Kontrolle. Der Oppositionspolitiker, der wahrscheinlich die besten Aussichten gegen den langjährigen Machthaber gehabt hätte, der Bürgermeister von Istanbul, wurde mit einem fadenscheinigen Gerichtsverfahren außer Gefecht gesetzt.

Auch andere Parteien, die ihm gefährlich werden könnten, wie die kurdische HDP, hat Erdogan mit juristischen Mitteln vom politischen Wettbewerb fernhalten lassen und behindert, und das schon seit längerem. Mit der Chancengleichheit, die in einer demokratischen Wahl vorherrschen sollte, ist das alles kaum vereinbar.

Trotzdem sollte man das Ergebnis vom Sonntag nicht als Manipulation des Wählerwillens werten. Die Lage im Land hätte die Opposition eigentlich begünstigen müssen. Die wirtschaftliche Misere, die Folgen des Erdbebens, die Aushöhlung des Rechtsstaats – all das waren gute Voraussetzungen, um Erdogan zu schlagen. Selbst ein eher farbloser Gegenkandidat wie Kilicdaroglu hatte da eine realistische Chance, wie die Umfragen vor der Wahl zeigten. Und immerhin konnte er Erdogan ja in einen zweiten Wahlgang zwingen.

Schon das zeigt, dass die Türkei bei allen Defiziten keine Diktatur ist, in der nur noch Scheinabstimmungen stattfinden. Die Türken hatten am Sonntag eine Wahl zwischen dem autoritär-islamistischen Amtsinhaber und einem kemalistisch-sozialdemokratischen Herausforderer.

Dass sie sich am Ende doch wieder für Erdogan entschieden haben, sagt etwas über die Stimmung im Lande, auch wenn sein Vorsprung nicht riesig war. Wie schon in der Parlamentswahl zu beobachten war, gibt es in der Türkei eine Mehrheit für das Gesellschaftsmodell des Präsidenten: eine Mischung aus Frömmigkeit, Nationalstolz, staatlich gelenkter Modernisierung und einem selbstbewussten Auftritt im Ausland. Dass Kilicdaroglu auf den letzten Metern des Wahlkampf selbst auf die nationalistische Pauke schlug, zeigt, wo die Türkei im Jahre 2023 steh

Istanbul ist nicht die Türkei

Das sollte man auch im Westen zur Kenntnis nehmen, wo man schon in der Vergangenheit dazu neigte, die städtischen Eliten in Istanbul mit dem Land zu verwechseln. Die Türkei wird unter Erdogan ein schwieriger Partner bleiben, aber man wird sich mit ihr weiter zusammenraufen müssen. Es gibt Felder, auf denen es sich lohnt, Druck auf den Präsidenten auszuüben oder auch mal Zugeständnisse zu machen. Dazu gehören der NATO-Beitritt Schwedens oder die Flüchtlingsfrage.

Schwieriger wird es beim Thema Menschen- und Minderheitenrechte. Mit einer Politik des erhobenen Zeigefingers wird man Erdogan auch weiterhin in die Karten spielen. Im schlimmsten Fall schadet man sich selbst, wie die frühere moralische Großmacht Schweden im vergangenen Jahr zu lernen hatte. Die Türkei ist nicht das einzige Land, bei dem die Kosten für eine wertegeleitete Außenpolitik steigen. Das ist eine Folge des (relativen) Machtverlusts des Westens, den man mit Aktivismus nicht ungeschehen machen kann.

Erledigt hat sich fürs Erste auch das Thema EU-Beitritt. Selbst bei einem Sieg Kilicdaroglus wäre das kein Selbstläufer gewesen. Wenn die Stichwahl aber wirklich ein Referendum über Erdogan war, dann hat die Türkei sich am Sonntag auch gegen Europa entschieden. Das Land schaut nach Osten, nicht nach Westen.