Türkei-Wahl in Deutschland: Aus Frust für Erdogan

Artikel von Othmara

 

Die Türkei steht vor einer Richtungswahl. Nach 20 Jahren an der Macht liefert sich Präsident Recep Tayyip Erdogan nach jüngsten Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Neben einem neuen Staatsoberhaupt entscheiden die Wähler in einer Woche auch über ein neues Parlament. Angesichts der knappen Ausgangslage könnten in diesem Jahr die Stimmen der im Ausland lebenden Türkinnen und Türken dafür ausschlag­gebend sein, ob es zu einem politischen Wechsel kommt. 1,5 Millionen Menschen, die in der Türkei wahlberechtigt sind, leben in Deutschland. Es ist die größte Gruppe außerhalb der Türkei.

Bei vergangenen Wahlen stimmten sie vor allem für Erdogan und seine Partei, die AKP. Bei der Präsidentenwahl 2018 etwa kamen 65 Prozent auf den Amtsinhaber, in der Türkei erhielt er hingegen nur 53 Prozent. Dass Erdogan bei den in Deutschland lebenden Türken so beliebt ist, hat verschiedene Gründe. Ein Punkt ist die Migrationsgeschichte der türkischen Gastarbeiter, erklärt Yunus Ulusoy vom Zen­trum für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. „Sie kamen aus den ländlichen Regionen der Türkei, die mehrheitlich konservativ wählen.“ Die größte Op­positionspartei CHP werde hingegen eher von Aufsteigermilieus, Eli­ten und Säkularen gewählt. „Und diese Schichten sind in Deutschland unter­repräsentiert.“

 Erdogan schafft eine emotionale Bindung mit der Türkei.“

Hinzu komme eine Protesthaltung ge­gen die deutsche Öffentlichkeit, die aufgrund der negativen Berichterstattung eine ablehnende Haltung gegenüber Erdogan entwickele. „Die können die Türkeistämmigen teilweise nicht nachvollziehen“, sagt Ulusoy. „Wenn sie in die Türkei reisen, stellen sie fest, dass sich die Türkei unter Erdogan sehr gut ent­wickelt hat.“ Unter jüngeren Türken in Deutschland erfreue sich Erdogan großer Beliebtheit, weil er ihnen das Gefühl ge­be dazuzugehören. Türken der dritten Generation, die schon in Deutschland so­zialisiert sind, fühlten sich noch immer nicht vollkommen von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert, sagt Ulusoy. „Erdogan hingegen schafft eine emotionale Bindung mit der Türkei.“

Sinem Adar von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin ergänzt, dass die AKP als Regierungspartei sehr gut vernetzt sei in Deutschland. Unter ihrer Ägide wurde das Wahlgesetz so geändert, dass auch türkische Staatsbürger mit Wohnsitz im Ausland in eigens eingerichteten Wahllokalen abstimmen können. Dank der neuen und alten Institutionen wie Religionsverbänden, einschließlich DITIB, ist die Diaspora-Politik in den letzten zehn Jahren systematischer ge­worden. Außerdem werden auch in Deutschland oft tür­kische Medien konsumiert. „Wir dürfen nicht vergessen, dass 90 Prozent der tür­kischen Medien von der AKP kontrolliert werden“, sagt Adar. In den vergangenen Jahren hat es vor allem die AKP geschafft, ihre Wähler in Deutschland zu mobili­sieren. In diesem Jahr, so Adars Eindruck, bringt auch die Opposition mehr Menschen zu den Wahlurne

2018 lag die Wahlbeteiligung bei knapp unter 50 Prozent, dieses Jahr wird sie wohl deutlich höher ausfallen. Ein Indiz dafür sind die langen Schlangen vor den Wahllokalen wie in Frankfurt. Obwohl es unter der Woche ist, stehen am Vormittag Hunderte Menschen vor dem türkischen Ge­neralkonsulat an. Viele sind mit Freunden und Familienmitgliedern angereist, aus Darmstadt, Wetzlar, Aschaffenburg.

Generalkonsul Erdem Tuncer schätzt, dass jeden Tag etwa 5000 Menschen ihre Stimme in Frankfurt abgeben. Ein Si­cherheitsdienst sorgt für Ordnung in der Schlange, lässt Ältere und Frauen mit Kindern auch vor, damit sie nicht allzu lange warten müssen. 16 Wahllokale gibt es bundesweit, überall dort, wo auch Konsulate sind. Die Türkei hatte zehn weitere Standorte beantragt, die das Auswärtige Amt nicht genehmigte, sagt Tuncer verärgert. Auch der türkische Außenminister regte sich darüber auf.

Der Generalkonsul erwartet eine höhere Wahlbeteiligung als früher. „Das ist ein echtes demokratisches Experiment“, sagt er. Im Wahllokal beobachteten Vertreter aller politischer Gruppen die Stimmab­gabe, sowohl von der Regierungspartei als auch der grün-linken Yesil Sol Parti, auf deren Liste die Kandidaten der kurdischen HDP antreten. Noch bis Dienstagabend können die Türken in Deutschland abstimmen, dann werden die Urnen in die Türkei zur Auszählung geflogen.

Von Deutschland aus sind die Probleme der letzten Jahre weit weg

Am Ausgang des Wahllokals Frankfurt steht eine Frau mittleren Alters, stark ge­schminkt, dunkle lockige Haare. Sie wartet auf ihre Verwandten, die noch in der Kabine sind. Die Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, lebt seit 30 Jahren in Deutschland. Angekommen fühlt sie sich nicht; auf der Arbeit werde ihr untersagt, Türkisch zu reden, während andere Kollegen sich in ihren Muttersprachen un­terhalten dürften. Sie hat für Erdogan gestimmt. Er habe die Türkei vorangebracht, Sozialleistungen eingeführt, die In­frastruktur ausgebaut.

Viele junge Wähler ärgern solche Aussagen. Einige sind zum Studium nach Deutschland gekommen. Türken, die die Türkei nur aus dem Urlaub kennen, merkten zwar, dass das Leben teurer geworden sei, kämen mit ihren Gehältern in Euro aber gut durch und fänden alles nicht so schlimm. Für die Studenten ist die Präsidentenwahl entscheidend für ihre Zu­kunft. Die 24 Jahre alte Deniz sagt deutlich: Ob sie nach ihrem Abschluss in die Türkei zurückkehre, hänge vom Wahlausgang ab. Sie und ihre drei Freunde haben für Kilicdaroglu gestimmt. Alle studieren in Wiesbaden, wollen Ingenieure und Ma­schinenbauer werden. Die Türkei könnte sie gut gebrauchen, doch in einem Land, in dem man sich nicht frei äußern könne und alles von einem Mann abhänge, wollen sie nicht leben. „Wir haben eine De­mokratie“, sagt Deniz. „Sie funktioniert nur nicht.“

Ein schwarzes Lieferauto mit dem Konterfei des Erdogan-Herausforderers fährt am Konsulat vorbei. Dabei ist der Wahlkampf auffällig ruhig. In Nürnberg hingen kurz Wahlplakate der AKP, in Köln trat eine AKP-Kandidatin vor ein paar Dutzend Frauen auf, in Frankfurt hatten türkischstämmige Menschen Kilicdaroglu-Flyer im Briefkasten. Viel läuft über die sozialen Netzwerke. Vorbei sind die Zeiten großer Auftritte wie der Erdogans in Köln 2014. Zum einen wurden die Gesetze für ausländischen Wahlkampf geändert. Zum anderen analysiert die Soziologin Adar: „Die Regierungs­koalition war noch nie so schwach.“ Das liege insbesondere an der wirtschaft­lichen Situation in der Türkei, die sich nach dem Erdbeben im Februar noch verschlechtert habe, sagt sie.

Ob es einen Wechsel in der Türkei gibt, hängt vor allem davon ab, wie viele Wähler die Opposition mobilisieren kann. Immerhin hat sie sich in diesem Jahr verbündet, Kilicdaroglu ist der Kandidat von Islamisten ebenso wie Linken. Rechnen sich die Menschen mehr Chancen für ihren Kandidaten aus, gehen sie eher wählen. In den vergangenen Jahren sind zudem mehr Akademiker und Fachkräfte nach Deutschland gekommen, ebenso wie Menschen, die für sich keinen Platz in Erdogans Türkei sehen, zum Beispiel Kurden. Sie sind eher keine AKP-Wähler und die, von denen der Wissenschaftler Ulusoy sagt, sie seien bisher in Deutschland unterrepräsentiert gewesen. Dennoch glauben weder er noch die Sozio­login Adar, dass Kilic­daroglu in Deutschland mehr Stimmen erhalten wird als Erdogan. Der türkische Präsident hat seine Anhänger hier. Sie setzen auf den vermeintlich starken Mann und Stabilität.